Fadenmethode

Hierein gehört alles was die Geschichte und Methoden der Mnemotechnik betrifft. Z.B. Was ist die Geschichtenmethode? Was sind Routen? Des Weiteren geht es auch um die historische Betrachtung und Analyse der Mnemotechnik.


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Ulrich Voigt
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Beitrag von Ulrich Voigt »

Pat hat geschrieben:Scharnier - Gelenk
Ich finde auch, dass "Scharnier" etwas besser passt als "Gelenk", zwar bezeichnet beides dieselbe Funktion, aber das Scharnier als mechanisches und künstliches Instrument kommt dem Gelenkbild vom Gefühl her näher. Ich gebe zu, dass ich damals an dieses Wort gar nicht gedacht hatte.
Der Vorteil ist aber nicht so groß, dass ich daraufhin eine bereits festgelegte Bezeichnung ändern möchte.
Vor zehn Jahren, als ich Esels Welt schrieb, stand ich vor der Aufgabe, überhaupt erst einmal eine umfassende und stimmige Terminologie der Mnemotechnik aufzubauen. Die vorliegenden Ansätze fand ich allesamt unbefriedigend, nämlich unklar, und vor allem sehr unvollständig.
Z.B. "Loci-Methode". Ich habe das Wort ganz und gar vermieden, denn "Loci-Methode" ist keine eindeutige Methode, sondern Hinweis auf ein Bündel möglicher Methoden.
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Ulrich Voigt
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Gelenkbilder statt Routentechnik

Beitrag von Ulrich Voigt »

EINKAUFSZETTEL sind ein beliebtes Beispiel, um die Brauchbarkeit von Mnemotechnik im Alltagsleben zu demonstrieren.
Gunther Karsten, Erfolgsgedächtnis (2002), S. 129 f. ("Nie wieder Einkaufszettel") bespricht die folgende Liste:
A = Tüte Milch / B = Zahnpasta / C = Orangen / "Und so weiter"
Na ja, das Beispiel ist so trivial, dass man schon recht dement sein muss, um es ohne Tricks nicht meistern zu können.
Karsten will, dass man sich für den Einkauf eine "Einkaufsroute" aus dem "Weg ins Büro" herstellt:
A = "So kann die Tüte Milch auf die Holztreppe (Ihr erster RP) donnern und dort eine Überschwemmung auslösen."
B = "die Zahnpastatube ist lustig um den Fahrradständer (Ihr zweiter RP) gewickelt."
C = "die Telefonzelle (dritter RP) ist mit saftigen Orangen vollgestopft (oder ein alternatives Bilf mit mehr Gefühl: Stehen Sie in der Telefonzelle, telefonieren Sie unverschämt lange, was die wartenden Menschen so in Rage bringt, dass sie voller Wucht Orangen an das Telefonhäuschen werfen)."

Ich muss zugeben, dass damit ein effektives System beschrieben ist. Hätte Karsten aber eine lange und schwierige Liste als Beispiel genommen, so hätte man gemerkt, dass er doch auch ganz schön arbeiten muss, um sie auf seine Routenpunkte zu phantasieren. Er setzt deshalb auch hinzu: "Dieses spezielle mentale Training ist gut vergleichbar mit dem Ausdauertraining eines Läufers:"

Und was wäre mit dem Einkaufszettel AB = Milch-Zahnpasta / BC = Zahnpasta-Orangen?

Man bräuchte dann keine Route und die Visualisierungen geschehen genau so geschwind:
AB = Zahnpasta, die aus Milch hergestellt ist.
BC = Orangen, die zu Zahnpasta verarbeitet werden.
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Ulrich Voigt
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Beitrag von Ulrich Voigt »

Pat hat geschrieben:Natürlich hatte ich diese Idee auch einmal [...]
Das glaube ich sofort. Viele hatten schon diese Idee.
Der springende Punkt ist aber der: Mir ist klargeworden, dass die Visualisierung von Wortverknüpfungen immer auf interessante Bilder führt, auf Bilder, die den Bedingungen, die wir Mnemotechniker an mnemonische Bilder nun einmal stellen, genügen. Mir ist das deshalb klargeworden, weil ich sehr viel Übung habe im Erstellen mnemonischer Bilder, Szenen und Geschichten, sehr viel Praxis in dem, was ich als Phantasie-Arbeit bezeichne.
So habe ich mich entschlossen, aus den Gelenkwörtern eine regelrechte Methode zu machen, eben die Gelenkwortmethode.
Zu dieser Methode habe ich in der Literatur nichts finden können und mein Eindruck ist daher, dass man an diesen allzu nahe liegenden Gegebenheiten unserer Sprache stets zu achtlos vorbeigegangen ist. Natürlich wäre ich dankbar für jeden konkreten Hinweis, der diesen Eindruck widerlegt.
Pat
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Beitrag von Pat »

Zum "Scharnier":

Wenn es schon so verkrustet ist nach zehn Jahren ... ;). Ich kann Sie beruhigen: Es gibt noch keinerlei Usus außerhalb dieses Fadens, die Methode so zu nennen. Daran soll es also nicht scheitern.
Der springende Punkt ist aber der: Mir ist klargeworden, dass die Visualisierung von Wortverknüpfungen immer auf interessante Bilder führt, auf Bilder, die den Bedingungen, die wir Mnemotechniker an mnemonische Bilder nun einmal stellen, genügen. Mir ist das deshalb klargeworden, weil ich sehr viel Übung habe im Erstellen mnemonischer Bilder, Szenen und Geschichten, sehr viel Praxis in dem, was ich als Phantasie-Arbeit bezeichne.
Das ist natürlich der Fall. Ich bezweifle aber, dass Sie der erste waren, der sich an einem Urteil über diese Bilder versucht hat. Und "interessant" ist nicht gerade objektiv. Ich zum Beispiel halte Bilder wie "Zahnpasta-Orangen" für mangelbehaftet, weil viel zu willkürlich. Mit so etwas kann man aus meiner Sicht nicht effektiv arbeiten.

Dieses Urteil gewinne ich aus meiner Erfahrung mit der Erstellung von Bildern, Orten und Geschichten, im Rahmen derer ich natürlich auch eigene Kniffe und Techniken entwickelt habe, um das alte Bild-auf-Ort besser zu machen. Ich würde sogar soweit gehen, dass die Zahl und Intensität an Bildern, die ich mir als Gedächtnissportler in den letzten 6 Jahren vorgestellt habe, der Zahl der von Ihnen erzeugten Bilder gewiss gleichkommt. Dies ist jetzt kein Kräftemessen, aber vielleicht eine nicht schadende Verdeutlichung.

Und dabei muss ich sagen, dass es aus meiner Sicht nicht zutrifft, die mit längerer Überlegung erzeugten Bilder seien etwa "besser" oder "ausgereifter". Das ist nicht der Fall. Wenn man in 5 Minuten 150 Bilder auf Orte setzt, diese noch einmal wiederholt und sich dann an alle erinnern will, dann können Sie mir glauben, dass die Verbindungen gar nicht schlecht sein dürfen. Mit schlechten Verbindungen lässt sich so etwas nicht machen.

Das Gleiche gilt z. B. für die Gesprochenen Zahlen, bei denen man nur 1 s Zeit hat und die Bilder nur einmal sieht. Ohne ausreichende gute, hochwertige Verankerung geht da gar nichts. Und oft erinnert man sich auch noch Tage, manchmal Wochen, später an die Bilder auf den Orten. Soviel zur Nachhaltigkeit.
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Ulrich Voigt
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Beitrag von Ulrich Voigt »

Pat hat geschrieben:Ich bezweifle aber, dass Sie der erste waren, der sich an einem Urteil über diese Bilder versucht hat.
Ich wollte eigentlich provozieren, dass mir jemand eine Belegstelle nennt.
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Ulrich Voigt
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Beitrag von Ulrich Voigt »

Pat hat geschrieben:Ich zum Beispiel halte Bilder wie "Zahnpasta-Orangen" für mangelbehaftet, weil viel zu willkürlich. Mit so etwas kann man aus meiner Sicht nicht effektiv arbeiten.
Offenbar reden wir an einander vorbei.
Für den Zweck "Einkaufszettel" ist die Zahnpasta-Orange bestens geeignet, vorausgesetzt, man hat die Fähigkeit, sich eine solche Orange vorzustellen.
Das Bild ist gerade nicht willkürlich, denn bei Anwendung der Gelenkwortmethode ist das Wort Zahnpasta-Orange erzwungen!
Pat
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Beitrag von Pat »

Nein, es ist willkürlich, weil es von willkürlicher Qualität ist. Gerade die erzwungene Form nimmt einem jegliche Flexibilität, um gute Bilder zu erzeugen. Man ist darauf angewiesen, dass die beiden Bilder passen. Das mag für den einen funktionieren, für den anderen aber nicht. Darum halte die Methode zwar, wie sie geschrieben hatten, sicher unter gewissen Umständen für eine mögliche Ergänzung, sie ist aber recht eindimensional.

Und von der Effektivität bin ich nicht überzeugt. Man soll also lediglich AB, BC, CD etc... denken und dann geht die Liste wie von selbst? Wie komme ich denn sicher von B zu C? Gut, ich beginne mit AB und habe dann natürlich B als Ausgangspunkt. Aber was war C nochmal? Da gibt es ja soviele mögliche zusammengesetzte Worte. Das mag vielleicht gehen, wenn man noch Orte verwendet, damit die Kette nicht abreißt (im Gegensatz zu einem völligen Verzicht auf alles weiteren Hilfsmittel).

Aber das wäre dann aus meiner Sicht wieder uneffektiver als sich einfach die einzelnen "Perlen" entlang der Schnur zu merken. Man verdoppelt sonst ja nahezu die Zahl der einzuprägenden Bilder. Das rechtfertigt aus meiner Sicht nicht, dafür eine größere Sicherheit bei der Lückenlosigkeit der Reihe zu erhalten. Die hat man nach einigen Wiederholungen (die ja immer schneller gehen) auch.

Und zum Vorstellen: Natürlich hat man die Fähigkeit, sich so etwas vorzustellen. Das ist ja keine Kunst. Aber es ist eben kein freies, geschaffenes und schönes Bild, sondern das Produkt eines Regelkorsetts und darum notgedrungen oft zu statisch und unschön. Da kann man sich so viel vorstellen, wie man will.
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Ulrich Voigt
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Beitrag von Ulrich Voigt »

Pat hat geschrieben:Wie komme ich denn sicher von B zu C? Gut, ich beginne mit AB und habe dann natürlich B als Ausgangspunkt. Aber was war C nochmal? Da gibt es ja soviele mögliche zusammengesetzte Worte.
Es gibt grunsätzlich keine sichere Methode und auch die Gelenkwortmethode kann so etwas nicht beanspruchen. Nehmen wir den genannten Einkaufszettel (A=Milch, B = Zahnpasta, C = Orangen). Wenn ich also bei B= Zahnpasta angekommen bin, so lautet hier die Frage nicht einfach: "Was kann man mit `Zahnpasta`für zusammengesetzte Wörter bilden?", sondern: "Welches Wort der Form Zahnpasta- ist auf meiner Einkaufsliste?"

Vergleiche ich mit der Methode des gleitenden Übergangs, so könnte die Vorstellung X=weiß von A=Milch zu B=Zahnpasta führen und die Vorstellung X=frischer Geschmack von B=Zahnpasta zu C=Orangen. Wenn ich nun bei B=Zahnpasta angekommen bin, so ist es recht wahrscheinlich, dass mich die Frage "Woran erinnert mich Zahnpasta?" auf X= frischer Geschmack" bringt. Dann aber könnte es sein, dass sie Sache abbricht und ich C=Orangen nicht finde.

In beiden Fällen ist ein Faden ("Perlenschnur"), den ich noch etwas geübt habe, eine enorme Hilfe, das steht natürlich außer Frage.
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Ulrich Voigt
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Fadengeschichte

Beitrag von Ulrich Voigt »

Gunther Karsten, Erfolgsgedächtnis (2002), S. 94 f. gibt zum Erlernen der zwanzigstelligen Zahl 90431395705068146320 die folgende Fadengeschichte:

"Sie tanken den riesigen Bus mit Rum, und ein Team mit einem Sack voller (Fuß)Bälle steigt ein, wobei jeder als Reiseproviant ein Stück Käse bekommt. Da der Bus nicht anspringt, nehmen Sie ein Lasso und spannen Schafe zum Ziehen an, die auf der frisch geteerten Straße laufen. Sie laufen immer schneller und schneller, bekommen vor Erschöpfung Schaum vor den Mund und fallen alle auf die Nase."

Karsten schreibt dazu:
"Lesen Sie bitte Ihre Geschichte noch einmal durch, visualisieren Sie diese so gut wie möglich [...] achten Sie dabei auch darauf, dass die Abfolge der Geschehnisse [...] eindeutig ist."

Ich lasse mal außer Betracht, dass die Geschichte insofern unsauber konstruiert ist, als sie Substantive mit sich führt, die nicht gemeint sind (Sack, Reiseproviant, Straße, Mund) und das Wort Teer in einem Partizip versteckt und auch keine besonders klare Reihenfolge von Ereignissen beschreibt.

Die Frage ist, was man von solchen Fadengeschichten grundsätzlich halten soll.

Carl Otto Revenlow, Praktisches Lehrbuch der Mnemonik (1847), S. 3:
"Nie darf man aber die ganze Reihe in Zusammenhang bringen wollen; kein Faden darf durch sie gehen, sondern je zwei und zwei Glieder müssen für sich und durch sich stehen. "

Ebenso urteilten meines Wissens alle Mnemoniker des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert jedenfalls David M. Roth und Harry Lorayne.

Sie alle halten solche Geschichten für unzuverlässig und fordern, dass zwischen A und B stets ein interaktives Bild steht, bei Weber-Rumpe ein interaktiver Satz oder eine Treppe für den fließenden (besser: plausiblen) Übergang von A nach B.

Die Meinungen der Meister gehen also auseinander.

Ich finde, dass hier die Gelenkwortmethode greift. Während ich die Geschichte rekapituliere, denke ich und visualisiere ich Bus-Rum / Rum-Team / Team-Ball / Ball-Käse / Käse-Lasso / Lasso-Schaf / Schaf-Teer / Teer-Schaum / Schaum-Nase und habe damit die von Reventlow, Roth, Lorayne und so vielen anderen verlangte Sicherheit.
Ich ziehe dies der - ebenfalls möglichen - Setzung interaktiver Bilder deshalb vor, weil der Fluss der Geschichte weniger gestört wird. Die interaktiven Bilder haben die Tendenz, selbst zu kleinen Szenen oder Geschichten zu werden. Das Ausdenken fließender (plausibler) Übergänge ist auch nicht immer so einfach, - aber vielleicht ist das auch nur eine Frage der Übung.
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