Dr Yip Swee Chooi - Wörterbuchmethode - Fragen

Alles was Lerntechniken und Lernstrategien betrifft, insbesondere aber nicht ausschließlich gehören hier auch die Anwendungen von Mnemotechnik herein.
Wie kann ich am besten für Prüfungen lernen, wie merke ich mir Namen, wie lerne ich Zahlen oder Formeln etc.

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FrASo
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Beitrag von FrASo »

Ulrich Voigt hat geschrieben: Die Aufgabe ist also, ein Wörterbuch so aufzubauen, dass (1) das Erlernen und Wiederholen desselben erstens möglichst leicht wird und dass (2) durch das Lesen des Wörterbuchs Sprachverständnis und Sprachkompetenz entsteht.
Johannes Buno hat diese Aufgabe für das lateinische Vokabular gelöst. Sein Ansatz war der, (A) Klumpen zu bilden, die grammatikalischen Gesichtspunkten folgen und damit entsprechende Kenntnisse ohne Lernanstrengung vermitteln, (B) die lateinischen Wörter in einen in deutscher Sprache formulierten bzw. gedachten phantasievollen Zusammenhang zu bringen.

(...)

Ebenso wie Buno hinsichtlich der einzelnen Vokabeln verzichte ich hinsichtlich der einzelnen Schriftzeichen auf Eselsbrücken und setze statt dessen auf Verständnis.
Damit hat man zwar eine deutsche Liste, mit der man sich abfragen kann, aber noch lange keine Vokabel gemerkt:
Auf der Wiese prater steht ein Stier taurus. Wieso sollte das helfen, die Vokabeln zu merken?

Das Verständnis ist da, aber das Problem ist ja hier nicht das Verständnis, sondern die Hemmungen und falschen Konditionierungen, die uns am Erinnern hindern. Eine ellenlange Auflistung macht es sogar schwieriger. Und aus einem Satz wie "Es war noch ein Haufe oder Trupp, in dem ein jeder ein Kropf einer Spannen lang hatte ..." Kann ich mir die Übersetzungen turma, Struma, spithama nicht besser merken als aus einer Vokabelliste. Und der komplette Satz enthält schon 8 Vokabeln. Er bietet keine Lernhilfe, keine vereinfachte oder verbesserte Assoziationsmöglichkeit. Oder anders ausgedrückt: Nimmt man die Eselsbrücke weg, ist es keine Mnemotechnik im engeren Sinne. So merkt man sich lediglich den Inhalt des zu erlernenden Wortschatzes in grammatischer Ordnung.

In meinen Augen hat man damit das Lernziel verkehrt. In erster Linie kommt es ja auf die Kenntnis der Übersetzung an, eine gezielte Zugriffsmöglichkeit ist doch allenfalls sekundär. Auch der Vorteil, dass man die Vokabeln durch die Geschichte und das Verständnis derselben gleich in beide Richtungen können sollte, hilft nichts, wenn man sie sich nicht merken kann.

Für Bunos Schüler mag es funktioniert haben. Sie mussten ja Vokabeln lernen und ganz einfache Sätze übersetzen, bevor der eigentliche Lateinunterricht begann. Für sie war hier also eine geniale Methode zu wiederholen, zu vertiefen und den passiven Wortschatz zu aktivieren.

Gerade im Lateinischen lernt man eine Menge Vokabeln sowieso als Ausnahme mit der Grammatik. Da ist es verlockend, gleich einen ganzen Wortschatz in die Mnemotechnik der Grammatik einzubinden. Dann muss man aber auch Lernhilfen dazu setzen, sonst verschleiert man nur den Blick auf die Grammatik.
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Ulrich Voigt
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Re: Re:

Beitrag von Ulrich Voigt »

FrASo hat geschrieben:Auf der Wiese prater steht ein Stier taurus.
Hiermit könnte man zunächst einmal die beiden Vokabeln prater und taurus aufnehmen. Ob man dafür zusätzliche Hilfen benötigt, etwa nach einer keyword Methode oder durch etymologische Erklärungen, können wir hier ausklammern.
Der Hilfssatz verschwindet sodann, übrig bleiben die beiden Wörter, in einem Klumpen zusammengefasst, also {prater, taurus}.
Der Lernenden stellt sich eine Wiese vor mit einem Stier drauf, während er liest "prater, taurus".
Diese Vorstellung erweitert sich ziemlich schnell beträchtlich durch Hinzunahme weiterer Vokabeln.
Lese ich diese Vokabeln, so durchlebe ich den Klumpen, d.h. einen lebendigen Kontext von Vorstellungen, eine "Geschichte" sozusagen.
Diese Geschichte kann ich mir immer wieder sonder Mühe träumen, wobei ich mir - wir sind jetzt schon in Stufe 3 des Unternehmens "Vokabeln lernen" - die lateinischen Wörter denke oder vielleicht auch, wenn ich damit niemanden störe, aufsage, oder, falls ich das nötig haben sollte, sie aufschreibe. Die Geschichte ist eine Klumpengeschichte, ich bin nicht darauf angewiesen, erst an eine Wiese zu denken, bevor ein Stier sich drauf stellt, ich kann sie auch gleich beide zusammen sehen.
Lernt man Vokabeln dagegen im Zusammenhang eines Textes, so gibt der Text den Kontext für die Wörter in ihm, diese hängen daher immer nur in kleinen Grüppchen zusammen. Wollte man mit Hilfe des Textes die Vokabeln etwa wiederholen, so wird man bald sehen, dass das gar nicht geht, weil nämlich zu viel Zeit vergeht, bis man seine gesammelten Vokabeln alle durch ist. Also greift man zu Listen oder Kärtchen mit den einzelnen Vokabeln, die nun ganz vereinzelt und entsprechend trostlos und langweilig werden. Ist der Kontext aber ein Klumpen, den ich mir in meiner Muttersprache denke, so macht das keine Mühe. Der Klumpen ist in erster Linie ein Instrument zum Rekapitulieren.
Die Hauptschwierigkeit beim Erlernen eines Vokabulars ist ja nicht das Aufnehmen der neuen Wörter, sondern ihre Verankerung durch Wiederholung. Dies ist zugleich die Schwachstelle der nicht-mnemotechnischen Lernmethoden: Sie haben kein System zum Wiederholen, das für größere Mengen von Wörtern bequem wäre.
Wie man sich nun das Arbeiten mit solchen Klumpen von Wörtern vorstellen soll, habe ich in Esels Welt erörtert ("Die Geschichte vom Ende des Rebhuhns"). Die Wiederholung ist dann unter allen Umständen möglich, beim Spazierengehen, beim Zähneputzen, sogar während der Konversation, falls diese vielleicht etwas langweilig sein sollte. Beim Erlernen der 10.000 Stellen der Zahl Pi habe ich das für mich hinlänglich erprobt.
Man benötigt allerdings im Hintergrund die Möglichkeit, Zweifel, die beim Wiederholen auftreten, bequem auflösen zu können, also ein Wörterbuch.
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Re: Dr Yip Swee Chooi - Wörterbuchmethode - Fragen

Beitrag von FrASo »

Den Nutzen zur Wiederholung und zur Ordnung des Stoffes bestreite ich ja gar nicht. Doch dies ist ja nicht das Hauptproblem des Vokabellernens. Für mich geht es darum, den Anteil des 'vergessenen' Stoffes herabzusetzen, wodurch das Lernen schneller vorankommt.

Bei einer Wanderung oder einer Arbeit, die nicht die ganze Aufmerksamkeit erfordert, möchte ich die Vokabeln wiederholen. Sagen wir, ich habe schon ordentlich gelernt und nehme mir 100 Vokabeln vor. Diese stelle ich mir als Klumpen vor und werde dennoch feststellen, dass - sagen wir - 40 nicht sitzen. (Ich gehe hier mal davon aus, dass eine lebendige Vorstellung an sich das Lernen schon erweitert.) Schon stehe ich auf dem Schlauch. Ich muss irgendwie an ein Wörterbuch gelangen und mir mühselig die Vokabeln heraussuchen. Besser ist da die Geschichte, oder zumindest den Klumpen, schriftlich zu haben. Aber da kann ich auch gleich mit der Lernkartei hantieren, schließlich ist Buno doch etwas veraltet und z.B. die Übersetzung von turma mit Haufe, Trupp nicht (mehr) ganz korrekt. Also muss ich mir die Hintergrundgeschichte und den Klumpen selbst bilden.

Warum soll es Sinn machen, hier auf halbem Weg stehen zu bleiben? Warum sagt der Hirte nicht O und aus seinem Mund stößt plötzlich eine Schlange hervor, die zischt "ssss", worauf sich sein Gesicht vor Schreck verzerrt? Ein Turm von Reitern mit Anführer betritt die Wiese. Der Hirte "spieht a mal" eine Flamme eine Spanne weit, wie es ihm die Schlange vormacht und streicht um seinen Kropf. 'prater' habe ich mir damals mit dem Wiener Prater gemerkt, also steht da das Riesenrad, natürlich in Schwarz-Weiß. Welche Musik erklingt, dürfte auch klar sein. Der Stier versucht aus dem Tau der Wiese raus zu kommen. Das kann man auch weiter untereinander verknüpfen. Dann steht der Klumpen besser: Der Stier greift den Turm-Reiter-Trupp an. Dieser rettet sich in das Riesenrad. Das gelingt ihnen nur, weil der Hirte den Stier mit der Flamme ablenkt, die er wegen der Schlange speien kann.

Das war jetzt nur improvisiert und ist sicher noch zu verbessern, zumal die Vokabeln zufällig zusammengekommen sind. Zusammen mit etymologischen Stützen und Ähnlichkeiten wie flamma - Flamme wird sich die Zahl des Gemerkten signifikant verbessern. Und jetzt macht auch der Klumpen Sinn: 5 bis 10 Vokabeln nachzuschlagen geht schneller als 40.

Ich verstehe einfach nicht, wieso das Verzichten auf die künstliche Assoziation effektiver sein soll. Verstehend kann man Vokabeln ja nicht lernen. (Die Etymologie außer acht gelassen. Aber, wie hier schon mehrfach betont wurde, muss man sich die Vokabeln, die man herleiten kann, meist nicht mehr merken.)

Ihre Geschichte vom Ende des Rebhuhns hatte ich mir schon gestern vor meinem letzten Post nochmals durchgelesen. Und die kleine Weltreise aus "Das Jahr im Kopf" hat -leicht modifiziert- bei mir gut funktioniert. Natürlich wäre es schön, wenn auch das Wort 'taurus' schon allein durch die Geschichte mit dem Bild des Stiers verbunden wäre, aber das ist natürlich nicht der Fall, wir müssen es lernen. Und gerade dies soll ja erleichtert werden. Und auch die Weltreise war für mich nur nützlich, weil ich das Major-System zuvor eingeübt hatte und der restliche Code einfach war.
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Ulrich Voigt
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Re: Dr Yip Swee Chooi - Wörterbuchmethode - Fragen

Beitrag von Ulrich Voigt »

Meines Erachtens ist die Organisation der Wiederholung doch die Hauptsache beim Vokabellernen!

Selbstverständlich benötige ich ein Wörterbuch im Hintergrund, bei dem ich nachschauen kann, wenn Unsicherheit auftritt. Das muss aber nicht unbedingt mühsam sein.

Eselsbrücken für einzelne Wörter mit in die Geschichten hineinzunehmen, halte ich für einen Fehler, sogar für einen großen Fehler. Die Arbeit an den Klumpen-Geschichten soll dazu führen, dass ich auf die gelernten Wörtern ohne Umwege zugreifen kann. Die Eselsbrücken, die ich mir für das eine oder andere Wort herstelle, sind immer nur eine Zeitlang nötig und haben daher in meinen Geschichten, die auf Dauer angelegt sind, nichts zu suchen. Dazu Esels Welt S. 65, "Provisorisches und Endgültiges".

Es handelt sich hier also nicht um eine Rundum-Mnemotechnik, weshalb Johannes Raue schrieb, die Latein. Grammatica Bunos sei gar keine Mnemotechnik. Dazu: Esels Welt Kap. 5, Abschn. 2 "Vor dem Hintergrund einer Geschichte".
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Ulrich Voigt
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Re: Re:

Beitrag von Ulrich Voigt »

FrASo hat geschrieben: aus einem Satz wie "Es war noch ein Haufe oder Trupp, in dem ein jeder ein Kropf einer Spannen lang hatte ..." Kann ich mir die Übersetzungen turma, Struma, spithama nicht besser merken als aus einer Vokabelliste. Und der komplette Satz enthält schon 8 Vokabeln. Er bietet keine Lernhilfe, keine vereinfachte oder verbesserte Assoziationsmöglichkeit.
Damit ist sehr treffend die übliche Lernmethode charakterisiert. Ich arbeite mich durch einen schwierigen Text und sammle dabei die jeweils neuen Wörter in meinem Vokabelheft oder auf meinen Lernzetteln. Die Vokabeln fallen damit in die Isolierung. Der Text, aus dem sie stammen, gibt nur eine sehr dürftige Hilfe für ihre Verankerung in meinem Gedächtnis.
Statt dessen gehen die neuen Wörter bei Bunos Methode in "ihre" Klumpen, wo sie sozusagen von Freunden aufgenommen werden und dazu beitragen, einen bereits interessanten Zusammenhang noch interessanter zu machen.
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Re: Dr Yip Swee Chooi - Wörterbuchmethode - Fragen

Beitrag von FrASo »

Gut, dann hatte ich die Zielsetzung missverstanden.

Genauso wollte ich Buno, von dem ja auch das Zitat stammt, natürlich nur hinsichtlich der Vokabeln charakterisieren:

Die Vokabeln stehen bei Buno vollkommen isoliert da. Darüber hinaus sind sie zusammenhanglos. Verständnis und Zusammenhang ergeben sich nur für die Deutschen Worte. Es sei denn, die Lateinischen sind schon gelernt. Denn ansonsten können sie in einer solchen Geschichte keinen Klumpen bilden, da ich sie ja gar nicht kenne. Wenn ich sie aber kenne, ist es äußerst nützlich. Es ist nicht nur ein System zur Wiederholung, sondern fördert den aktiven Wortschatz durch die Anwendung der Vorstellungskraft. Ein Klumpen dürfte auch eine wesentlich natürlichere Umgebung für Vokabeln sein, als die Lernkartei.

Zugeben muss ich auch, dass was dem Ersten eine einleuchtende Assoziation ist, dem Zweiten nur nach Erklärung einleuchtet und dem Dritten gar nicht. Auch von daher macht eine Trennung des Merkens von der Wiederholung Sinn. Aber, wie gesagt, wenn ich nur eine solche Geschichte wie die Bunos ohne weiteres Lernen aufnehme, werde ich mich kaum an 10 von 100 Vokabeln erinnern können. Die Vokabeln haben eben keinerlei Bedeutung, stehen nur als Übersetzung im Zusammenhang. Also brauche ich, um sie leichter zu lernen, immer noch Hilfsmittel. Sonst sind wir ja wieder beim stupiden Lernen.

Sonst ist das System auch gegenüber der Lernkartei massiv im Nachteil, denn das Nachschlagen einer Vokabel und Erfassen seiner Bedeutung mithilfe eines Wörterbuchs dauert seine 2 Minuten. Das Umdrehen und Lesen des Kärtchens nur ein paar Sekunden. Und brauche ich ein Wörterbuch, kann ich nur dort lernen, wo mir eines zur Verfügung steht. Somit muss ich zunächst die Assoziationen optimieren, um möglichst wenig nachschlagen zu müssen.

Wenn nun die Eselsbrücken im Klumpen stören, müssen sie eben so eingebunden sein, dass sie sich wieder lösen können, wie sich auch nicht mehr benötigte Informationen schnell von Routen lösen. Sie dürften also nur zwischen den Übersetzungspaaren stehen, was natürlich bei einem Klumpen problematisch ist.
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Ulrich Voigt
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Re: Dr Yip Swee Chooi - Wörterbuchmethode - Fragen

Beitrag von Ulrich Voigt »

FrASo hat geschrieben:Kärtchen
Kärtchen sind nützlich. Sie kommen aber erst so richtig zur Geltung, wenn man im Hintergrund geeignete Klumpengeschichten hat. Beim üblichen Kärtchenlernen sind die beiden Kärtchen prater / Wiese und taurus / Stier zwei isolierte Gegebenheiten. Jetzt aber sehe ich, wenn ich das "prater"-Kärtchen zur Hand nehme, das Wort vergessen habe und auf der Rückseite "Wiese" lese, eine Wiese vor mir mit einem Stier drauf und natürlich denke ich dabei an "taurus" und nicht nur an "Stier". Die Klumpengeschichte wird ziemlich lang und komplex sein; ich werde also sofort noch eine Reihe weiterer Dinge vor mir zu sehen, mit denen "prater" per Klumpengeschichte in Verbindung steht. Auch zu der "Geschichte vom Ende des Rebhuhns" wäre eine Kärtchensammlung nützlich. Meine Handreichungen auf S. 165 f. Esels Welt sind Handreichungen, mit den entsprechenden 56 Kärtchen vor dem Hintergrund einer Klumpengeschichte zu arbeiten.
Begegne ich andererseits dem Wort "prater" in irgendeinem Text und kann mich nicht erinnern, so wird meine Kärtchensammlung kaum von Nutzen sein, denn wer möchte, um ein Wort aufzusuchen, einen Packen von Kärtchen durchblättern? Am Wörterbuch führt letztlich doch kein Weg vorbei.
Es steht übrigens frei, auf die Rückseite des "prater" - Kärtchens einen Hinweis auf den Wiener Prater zu setzen; das sollte aber beileibe die Klumpengeschichte nicht tangieren.
Klaus Horsten
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Re: Dr Yip Swee Chooi - Wörterbuchmethode - Fragen

Beitrag von Klaus Horsten »

Ulrich Voigt hat geschrieben:Klumpengeschichte
Ich nehme an, dass die "Multiple-Choice-Methode" (Esels Welt 128f.) keine Rolle spielt.
Auch spielt sie keine Rolle bei Buno.
Gibt es Vorläufer, historisch?
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Re: Dr Yip Swee Chooi - Wörterbuchmethode - Fragen

Beitrag von FrASo »

Ja, so und in diesem Sinne dürfte es funktionieren.

Allerdings bleibt ein Problem. Um mir die Vokabeln zu merken, nutze ich - ob ich es nun will oder nicht - doch immer noch Assoziationen. Diese Verbinden z.B. die Worte 'Wiese' und 'prater'. Dank eines Lehrers, der mit zwei Sätzen die Wiese mit dem Wiener Prater in Verbindung brachte, werde ich immer den Zusammenhang von 'Wiese' und 'Prater' herstellen können. Dabei kommt aber auch automatisch die Eselsbrücke in den Sinn. Jedenfalls wenn der Stoff noch frisch ist. Irgendwann denkt man beim Übersetzen nicht mehr an die Eselsbrücke, es sei denn man 'steht auf dem Schlauch', was ja ab und an vorkommt.

Wenn ich nun die Vokabeln mit einer Geschichte verklumpe, bleibt die Eselsbrücke doch immer im Hinterkopf. Zu Anfang dürfte sie meist im Vordergrund stehen. Damit lässt sie sich nicht aus der Geschichte heraushalten. Es wird wahrscheinlich schneller gehen sie nicht mehr zu brauchen, da ja durch den Klumpen neue Assoziationen entstehen, die das Gedächtnis stützen. Dennoch steht sie automatisch in Zusammenhang mit der Geschichte. Oder irre ich mich da?

Also muss Disziplin aufgewandt werden, dass sich die Eselsbrücke nicht weiter mit der Geschichte verbindet. Sonst wird sie ja perpetuiert. Dazu dürfte es am besten sein, die Eselsbrücke nur zwischen dem Begriff und seiner Übersetzung stehen zu lassen, damit er nicht tiefer in den Klumpen eindringt und sich festsetzt. Oder funktioniert das nicht?

Wenn ich es also richtig verstanden habe, wird das Lernen so in 3 Teile zerlegt:

1. das Lernen der Vokabeln
2. das Lernen der Klumpengeschichte (Habe ich zuvor die Vokabeln nicht gelernt, fehlen sie ja in der Geschichte. Oder liege ich da falsch?)
3. das wiederholende Visualisieren des Klumpens
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Ulrich Voigt
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Re: Dr Yip Swee Chooi - Wörterbuchmethode - Fragen

Beitrag von Ulrich Voigt »

FrASo hat geschrieben:Also muss Disziplin aufgewandt werden, dass sich die Eselsbrücke nicht weiter mit der Geschichte verbindet.
Dass Eselsbrücken, die ich mir für einzelne Wörter zurechtgelegt habe, störend in die Geschichte, die die vielen Wörter verbindet, einwirken, wird nur dann passieren, wenn ich sie dort explizit einbaue. Ja, wenn ich das Riesenrad vom Wiener Prater auf die Wiese stelle, um den Stier damit zu ärgern, dann ist es allerdings geschehen. "Selbst schuld!" würde ich dazu sagen. Im übrigen ist es doch selbstverständlich, dass mir bei "Wiese" alles Mögliche im Hinterkopf ist, denn ich hatte schon oft mit Wiesen Kontakt. Das bedeutet ja nur, dass ich das Wort nicht nur kenne, sondern mit ihm vertraut bin. Dass die Münchner von der Wiesen sprechen und die Wiener, die etwas vornehmer sind, vom Prater, kann doch in meiner Klumpengeschichte auf keine Weise stören. Ich brauche also auch keinerlei Disziplin, etwas aus meinem Hinterkopf draußen zu halten.
FrASo hat geschrieben:1. das Lernen der Vokabeln 2. das Lernen der Klumpengeschichte 3. das wiederholende Visualisieren des Klumpens
Bevor ich Vokabeln lerne, stelle ich die Klumpengeschichte her und lerne sie, denn dadurch erhalten die Vokabeln von Anfang an einen lebendigen Kontext.
Man kann dabei peu à peu vorgehen, die Klumpengeschichte baut sich dann mit jeder Gruppe von Neuankömmlingen neu auf. Das Erlernen der Vokabeln und das Ersinnen der Klumpengeschichte gehen Hand in Hand.
Man kann auch en bloc arbeiten, was den Vorteil hat, dass man jede Klumpengeschichte nur einmal zu ersinnen braucht und jeder Vokabel von Anfang an einen maximalen Zusammenhang bereitstellt. Ich gehe hinsichtlich der chinesischen Zeichen und Wörter so vor. Ich stelle erst einmal die 20 Klumpen vollständig zusammen. Dann beginne ich mit meinem Klumpen Nr. 1, ersinne meine Klumpengeschichte Nr. 1 und lerne seine "Vokabeln". Erst wenn ich das bewältigt habe, gehe ich zum Klumpen Nr. 2.
Wie man hier vorgeht, ist in erster Linie eine Frage des Ehrgeizes und der Zeit. Ich bin ein alter Mann und habe wenig Zeit, also arbeite ich "en bloc".
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Re: Dr Yip Swee Chooi - Wörterbuchmethode - Fragen

Beitrag von Ulrich Voigt »

Hansolka hat geschrieben:Wie kann man diesen Versuch bewerten? http://chineasy.org//
CHINEASY scheint mehrere Pluspunkte zu haben.

(1) Behandelt werden die klassischen Schriftzeichen und nicht die trostlosen sog. Kurzzeichen.

(2) Die mnemotechnischen Phantasien sind sensibel und witzig.

Beispiel 馬 = Pferd. Jeder erkennt hier mit Leichtigkeit das Pferd mit seinem Kopf, der Mähne, dem Schwanz, den Beinen; niemand benötigt dafür eigentlich noch weitere Hilfen. Das weiß Shaolan natürlich auch, statt nun aber ein entsprechendes Pferd auszumalen, zeichnet sie einen liebenswerten Pferdekopf und benutzt das Schriftzeichen 馬 als Auge, so dass die "Beine" (灬) als Wimpern erscheinen. Shaolan setzt also sozusagen noch einen drauf auf das normale Bild.
Mit dem sog. Kurzzeichen 马 wäre ihr das weniger gut gelungen, man hätte dann ein Pferd mit einer Brille gesehen oder mit einem Glasauge.
Ich wiederum bin in meiner Mnemotechnik nicht zufrieden mit den klassischen Schriftzeichen, sondern gehe immer zurück auf die Siegelschrift. Das entsprechende Schriftzeichen (von dem 馬 abgeleitet ist) zeigt das Pferd deutlicher.

Beispiel 女 = Frau. James W. Heisig, Remembering the Kanji I, 2003 (1977), No.98: You have probably seen somewhere the form of a squatting woman drawn behind this character, with two legs at the bottom, two arms (the horizontal line) and the head poking out the top. A little farfetched, until you draw the character and feel the grace and flow of the three simple strokes. Remembering the kanji is easy; learning to write it beautifully is another thing.
Shaolan macht aus 女 das Gesicht einer japanischen Frau. Wenn man das, was Heisig schreibt, weiß, ist das ebenso witzig wie das Pferd als Auge des Pferdes.
Auf die Etymologie nimmt Shaolan keine Rücksicht, Heisig im Grunde auch nicht. Damit ist natürlich jedweder Phantasie Tür und Tor geöffnet. Eine sexistische Verbildlichung von 女 findet sich z.B. bei Michael Rowley, Kanji Pict-o-graphix, 1992, in der brasilianischen Ausgabe Kanji Pictográfico, São Paolo 2006, No 411.

Beispiel 日 = Sonne. Hier schreibt Heisig: The kanji is intended to be a pictograph of the sun. Recalling what we sad in the previous frame about round forms, it is easy to detect the circle and the big smile that characterize our simplest drawings of the sun - like those yellow badges with the words, "Have a nice day!"
Wie man sieht, bezieht Heisig die Siegelschrift (in der runde Formen möglich waren, weil noch nicht mit dem Pinsel geschrieben wurde) mit ein, wie man aber auch sieht, interpretiert er das Siegelschriftzeichen als kindliches Produkt eines kindlichen Hirns.
Shaolan macht aus 日 ein Fenster und zeichnet eine Sonne, die durch das Fenster hereinscheint. Mir persönlich ist das jedenfalls sympathischer als dieser pseudowissenschaftliche Quark Heisigs.

(3) Die Zeichen werden nicht einfach nur vorgestellt, sondern von Anfang an als Bausteine benutzt, um neue Wörter und Sätze zu bilden. Wie weit das trägt, kann ich nicht beurteilen, denn dafür müsste ich mir CHINEASY kaufen und mich auf den Gang der Dinge einlassen.
Klaus Horsten
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Re: Dr Yip Swee Chooi - Wörterbuchmethode - Fragen

Beitrag von Klaus Horsten »

Im Chinesischen gibt es die Möglichkeit, ein Schriftzeichen so aufzuspalten, dass die neuen Teile wiederum selbständige Schriftzeichen ergeben.

Man nennt das Xizi 析字 "Schriftzeichenspalten".

Ich habe es hier beschrieben:
http://www.chinesischerhetorik.at/08.html

Ich gebe dort zwei Beispiele.

Nutzen für die Mnemotechnik:

1. Beispiel:
Um mir das Zeichen 男 nan2 "Mann" zu merken, zerteile ich es in 田 "Feld" und 力 "Kraft". Das Feld 田 ist viergeteilt (das hat mit dem Rechtssystem zu tun). 力 sieht aus wie ein "Pflug". Nun merke ich mir das Zeichen als "Definition": "Ein Mann ist jemand, der mit Kraft einen Pflug ziehend das Feld bearbeitet." Sobald ich "Mann" höre, denke ich an das Bild und erinnere mich an Feld und Kraft.

2. Beispiel:
Das zweite Beispiel macht vier Zeichen merkbar: 柴 = 此 + 木, 出 = 山 + 山; (da klappt es nicht so ganz: 煙 = 因火), 多 = 夕+夕. Es deutet schon eine Geschichte an.

Für viele Chinesen ist es selbstverständlich, ein unbekanntes Zeichen - und es gibt auch für Chinesen viele - spontan in seine selbständigen Teile zu zerlegen. Und auch wenn ein Chinese einem ein Zeichen mündlich beschreibt, so sagt er z.B. links die "Hand", rechts das shou von changshou "langes Leben" (ich weiß jetzt nicht, ob es das Zeichen mit Hand und langes Leben tatsächlich gibt.)

Ist das nicht, was Matteo Ricci macht?

Und haben es die Chinesen, wie besonders das zweite Beispiel zeigt, nicht vor ihm gemacht, so dass er es übernommen hat?

Für einen literarisch gebildeten Chinesen war es selbstverständlich, dass er die Frühform des Zeichens kennt. Es erleichtert das Merken. Auch ich habe mir die Zeichen so eingeprägt. Man braucht nur ein Buch, das die Teile beschreibt. Das ist viel spannender, weil ich etwas über die chinesische Geschichte lerne. Für mich war es das Buch von Leon Wieger: Chinese Characters: Their Origin, Etymology, History, Classification and Signification. Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/L%C3%A9on_Wieger
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Re: Dr Yip Swee Chooi - Wörterbuchmethode - Fragen

Beitrag von Ulrich Voigt »

Klaus Horsten hat geschrieben:析字
Vielen Dank für den Beitrag! Vielen Dank auch für den link zu Deinem interessanten Buch! Dass sich hier ein ausgewachsener Sinologe, der ein aktives Interesse an Mnemotechnik besitzt, an der Diskussion beteiligt, ist eine große Besonderheit.
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Re: Dr Yip Swee Chooi - Wörterbuchmethode - Fragen

Beitrag von Ulrich Voigt »

Matteo Ricci
Klaus Horsten hat geschrieben:Ist das nicht, was Matteo Ricci macht?
Und haben es die Chinesen, wie besonders das zweite Beispiel zeigt, nicht vor ihm gemacht, so dass er es übernommen hat?“
Ja, beide haben dasselbe Wissen und benutzen für 男 dieselbe Aufspaltung 田 + 力 (für Matteo Ricci habe ich keinen direkten Beleg, es ist aber außer Frage, dass er so analysiert hätte). Man findet also dasselbe hier und auch dort, so dass man sagen könnte, Matteo Ricci habe sich einfach nur ein übliches Verfahren seiner chinesischen Lehrer angeeignet.
Aber nein! Der Chinese schreibt: „Unter dem Schriftzeichen „Feld“ ist das Schriftzeichen „Kraft“, was dir ganz klar sagt, dass die Männer auf dem Feld ihre Kraft zum Einsatz bringen.“ Das ist eine Erklärung, deren Wahrheit durch den Zusatz „Versuche einmal, mit ihnen über Gefühle zu reden!“ unterstrichen wird, denn der Feldarbeiter wird gewiss sagen, dass er eine Menge Kraft benötigt. Die „wissenschaftliche“ Erklärung bewahrheitet sich in der Realität.
Matteo Ricci aber hätte so etwas geschrieben wie: „Ein Mann steht auf dem Feld und strotzt vor Kraft." Seinem Leser hätte er die Überlegung zugetraut, dass der Mann sich durch dieses Zusammentreffen gerade erst als richtiger Mann fühlt. Er hätte nicht versucht, etwas zu erklären, sondern durch ein Bild zusammenzufassen. Dieses Bild fehlt in der chinesischen Erklärung, die daher entsprechend farblos und für mnemotechnische Zwecke wertlos ist. Das Bild jedoch, das Matteo Ricci dazu setzt, ist nun eine Gegebenheit, die man geschlossen mitnehmen und an irgendeiner Stelle aufstellen kann, z.B. an einer Stelle für die Tonhöhe 2 oder an einer Stelle für die Lautung nan. Das Bild ist Phantasie, Zweckphantasie, eine Bestätigung in der Realität zu suchen, wäre ein Witz.
Du schreibst: „Nutzen für die Mnemotechnik: […] Um mir das Zeichen 男 nan2 "Mann" zu merken, zerteile ich es in 田 "Feld" und 力 "Kraft". Das Feld 田 ist viergeteilt (das hat mit dem Rechtssystem zu tun). 力 sieht aus wie ein "Pflug". Nun merke ich mir das Zeichen als "Definition": "Ein Mann ist jemand, der mit Kraft einen Pflug ziehend das Feld bearbeitet." Sobald ich "Mann" höre, denke ich an das Bild und erinnere mich an Feld und Kraft.“
Eine Definition ist aber kein Bild! Deine Erklärung folgt der chinesischen Vorgabe viel stärker als es Matteo Ricci getan hätte. Meines Erachtens machst Du dann die Sache zu kompliziert, denn einerseits tun die Lautung nan2, die Vierteilung des Schriftzeichens 田 und die Ähnlichkeit von 力 und Pflug nichts zur Sache und andererseits kommt „Mann“ zu kurz.
In China ist 析字 eine Methode zu Erklärung der Zeichen, eine ernsthafte Sache der Gebildeten, es fehlt ihr vollkommen das Spielerische, das den mnemotechnischen Zugang kennzeichnet. Matteo Ricci versuchte, den Chinesen einen neuen Zugang zu 析字 zu zeigen, jedoch wurde er nicht verstanden. Die Chinesen haben nie eine eigentliche Mnemotechnik ihrer Schriftzeichen hervorgebracht, erst heute – unter europäischem Einfluss – gibt es zaghafte Ansätze wie z.B. das Chineasy.
Der Zweck ist eben unterschiedlich. Der Chinese will das Zeichen verstehen und erklären. Matteo Ricci will es sich merken, d.h. das Verständnis ist ihm nur Mittel zum Zweck. Folglich ist Matteo Ricci bereit, das Verständnis zu opfern, wenn es ihm unzugänglich oder zu schwierig ist. Er hat dazu einen Abschnitt „Schwer zu schaffende Bilder“: "Will man sich das Schriftzeichen „jeder“ (每) merken, so muß eine Mutter (母) einen Hut auf dem Kopf tragen.“ (Michael Lackner, Das vergessene Gedächtnis. Die jesuitische mnemotechnische Abhandlung XIGUO JIFA. Übersetzung und Kommentar, Stuttgart 1986, S. 45).
Matteo Ricci wusste, dass der obere Teil von 每 nicht „Hut“ bedeutet, er wusste vermutlich, dass sich 每 gar nicht zerlegen lässt, er hatte aber keine Hemmung, der Mutter (母) einen Hut zu verpassen.
"Spielerisch": Matteo Ricci ergänzte die übliche Addition bei 析字 durch Subtraktion. Zum Beispiel hat er: „Das Zeichen für „minderwertig“ (亞) ist ein „böser“ Mensch (惡), dessen Herz (心) abgeschnitten ist." (loc. cit.). Gibt es das auch in der chinesischen Literatur? Möglich wär es, jedoch gewiss mit dem oben beschriebenen abgrundtiefen Unterschied.
Klaus Horsten hat geschrieben:Das zweite Beispiel macht vier Zeichen merkbar: 柴 = 此 + 木, 出 = 山 + 山; [...]. Es deutet schon eine Geschichte an.
Ja, das kann man sagen, jedoch besteht derselbe Unterschied wie oben. Suggestiv ist ja besonders das 山山出. Wieder ist man in der Realität, man schaut um sich auf die vielen vielen bewaldeten Berge, überall wächst unser Brennholz heran. Ich bezweifle, dass der chinesische Autor sich bewusst war, dass er ein ganz willkürliches Bild schuf und dass auf diesem Wege Mnemotechnik möglich wurde. Der Grundgedanke der Mnemotechnik, die Willkür nämlich im Setzen der Bilder zum Zwecke des Merkens, ist ein Gedanke, der in China nicht beheimatet ist und ungeachtet des grandiosen Versuchs Matteo Riccis auch nicht Fuß gefasst hat.
Zuletzt geändert von Ulrich Voigt am Mo 24. Mär 2014, 0:36, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Dr Yip Swee Chooi - Wörterbuchmethode - Fragen

Beitrag von Ulrich Voigt »

Ulrich Voigt hat geschrieben:In China ist 析字 eine Methode zu Erklärung der Zeichen, eine ernsthafte Sache der Gebildeten, es fehlt ihr vollkommen das Spielerische, das den mnemotechnischen Zugang kennzeichnet.
Klaus Horsten schreibt:
"Das Xizi soll kein bloßes Spiel mit Schriftzeichen sein, sondern dem literarisch gehobenen Ausdruck dienen (Forderung nach Ernsthaftigkeit).
Es sollen nur solche Schriftzeichen aufgespalten werden, welche sich aus eigenständigen Schriftzeichen zusammensetzen. Um zu wissen, welche Schriftzeichen Komposita sind, bedarf es der etymologischen Bildung. [...] Das Schriftzeichen 角jiao "Horn" beispielsweise ist das Abbild eines gestreiften Horns. Das Zerlegen in 刀 dao "Messer" und 用 yong "verwenden" ist daher unzulässig." (Klaus Joachim Horsten, Die Lehre vom Zurechtlegen der Worte, Bochum 1998, S. 111).

Man könnte also meinen, dass der mnemotechnische Ansatz das wahre Verständnis der Zeichen verbauen wird. In der Tat wird diese Befürchtung immer wieder ausgesprochen.
Welch ein Missverständnis!
Der verständige Mnemotechniker weiß, dass er sich mit seinen Phantasien in einem Traumland befindet, er käme nie auf die Idee, sie mit der Realität zu verwechseln. Ein gute Mnemotechnik wird allerdings auf Kenntnis der tatsächlichen Gegebenheiten abzielen und selbstverständlich die Etymologie beherzigen. Meine eigene Mnemotechnik zielt darauf, dass die Zeichen in Siegelschrift, in klassischer Quadratschrift und in "moderner" Kurzschrift beherrscht werden. Der essentielle Unterschied zwischen meinen Zweckphantasien und der Realität ist immer zweifelsfrei.
Die chinesische Beschreibung des Zeichens und seiner Bestandteile ist dagegen oftmals auch nichts anderes als willkürliche Phantasie, nun aber mit dem gefährlichen Gedanken, Realität zu beschreiben.
Ein Beispiel ist 出 = 山 + 山. Tatsächlich haben 出 und 山 keinen etymologischen Zusammenhang, sondern nur einen scheinbaren. Das 山山出 ist also nicht mehr wert als die Laune von ShaoLan, das Schriftzeichen 女 als Gesicht einer Geisha zu präsentieren, es hat aber den Nachteil gedanklicher Verwirrung.
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Ulrich Voigt
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Re: Dr Yip Swee Chooi - Wörterbuchmethode - Fragen

Beitrag von Ulrich Voigt »

Klaus Horsten hat geschrieben:Klumpengeschichte / "Multiple-Choice-Methode" (Esels Welt 128f.):Gibt es Vorläufer, historisch?
Mir nicht bewusst! Ich habe darüber allerdings auch nie nachgeforscht.
Klaus Horsten
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Re: Dr Yip Swee Chooi - Wörterbuchmethode - Fragen

Beitrag von Klaus Horsten »

Ulrich Voigt hat geschrieben:Das Bild [...] ist nun eine Gegebenheit, die man geschlossen mitnehmen und an irgendeiner Stelle aufstellen kann, z.B. an einer Stelle für die Tonhöhe 2 oder an einer Stelle für die Lautung nan.
Das finde ich grandios. Leider ist diese Methode "unter-theoretisiert" und "über-bebeispielt". Es ist auch das, was durch die Klumpentechnik à la Buno entweder verloren geht oder nicht zum Zug kommt. - Vielleicht irre ich mich auch in all dem und verstehe es nicht richtig.

Die "Lehre vom Zurechtlegen der Worte" lässt es offen, zu welchem Zweck die Worte zurechtgelegt werden. Der Zweck kann sein: "die Formulierung gefällt mir" (Stil), "ich finde diese Formulierung überzeugend" (Rhetorik) oder "so formuliert kann ich mir es gut merken" (Mnemotechnik).

Die genannte "Forderung nach Ernsthaftigkeit" stammt von dem chinesischen Autor, dessen Buch mir als Vorlage diente, nicht von mir. Dem Autor geht es um Stil, nicht um Überreden, nicht um Merkbarmachen.

In dem Zweckzusammenhang des Merkbarmachens kann auch, wie Du es machst, die gegenteilige Forderung erhoben werden, die nach dem Spielerischen. Aber auch das ist ernst und zielt auf Ernstes: Wenn das Fantasiebild kein tauglicher Haftkleber ist, soll der Mnemoniker es verwerfen und ersetzen; und das Spiel soll das Maximum an Lernstoff in einem Minimum an Zeit erinnerbar machen.

Wenn wir die Fachtermini aus China mit Fachbegriffen aus Europa übersetzen, dann öffnen wir eine Tür, stoßen sie aber gleich wieder zu, dann haben wir es nur mit uns selbst zu tun, und sind es letztlich selbst, die leer ausgehen. Wir übersehen das Fremde, das Andersartige. "Lehre vom Zurechtlegen der Worte", "Schriftzeichenspalten" ... - all diese Übersetzungen klingen fremd, unvertraut. Sie sind wortwörtlich. Sie ermöglichen es aber, sich in das Fremde hineinzudenken, öffnen Gänge, die sich weiter verzweigen, in die Tradition hinabführen: Ich halte nicht in Händen, was ich selbst vorher hineingesteckt habe.

Und umgekehrt. Wenn wir die Schachtel "Mnemotechnik" haben und fragen, wo ist diese Schachtel in China, dann übersehen wir alle die "versteckten Mnemotechniken", die sich in China verstreut finden: Die Kalligrafien zum Beispiel, die Schriftzeichen, Sprüche und Gedichte gegenwärtig halten, während des Essens im Restaurant etwa; das Kalligrafieren-Üben selbst, das die Schriftzeichen köperlich verinnerlicht; der 千字文 Tausend-Zeichen-Klassiker (Qianziwen), der aus 1000 verschiedenen Zeichen besteht, jeder Satz aus vier Zeichen, den auch ich noch gelesen habe, zum Teil - wir sind langsam vorwärts gekommen: Denn jeder der Sätze ist kommentiert von einem Kommentar, der Geschichten erzählt, die wiederum das Merken fördern.

天地玄黃 ... tian1 di4 xuan2 huang2 - "Am Anfang war der Himmel dunkel und die Erde gelb ..."

Hier, in diesem Video, sieht man wie der Kalligraf die ersten Zeichen des Tausend-Zeichen-Klassiker kalligrafiert: http://www.youtube.com/watch?v=O9VDJVur0Js.

Und irgendwie hat es der Kleine geschafft, den 1000 Zeichen Klassiker lesen zu können:
http://www.youtube.com/watch?v=L2LLFMRrBtk
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Ulrich Voigt
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Re: Dr Yip Swee Chooi - Wörterbuchmethode - Fragen

Beitrag von Ulrich Voigt »

Klaus Horsten hat geschrieben:[Matteo Riccis Bilder für chinesische Schriftzeichen] Das finde ich grandios. Leider ist diese Methode "unter-theoretisiert" und "über-bebeispielt". Es ist auch das, was durch die Klumpentechnik à la Buno entweder verloren geht oder nicht zum Zug kommt.
Das belebte Bild (Matteo Ricci) / Die Klumpenmethode (Johannes Buno)
Matteo Ricci war kein kreativer Mnemotechniker in dem Sinne, dass er neue Methoden ersonnen hätte. Er hielt sich an bekannte Technik und lässt sich ohne weiteres einordnen in die mnemotechnische Tradition der Dominikaner. Er war allerdings ein äußerst begabter und kreativer Mann, der die alte Technik, Inhalte durch Bilder darzustellen, auf ein Objekt anwendete, das alle bisher von Mnemotechnikern in Angriff genommenen Objekte an Schwierigkeit und Komplexität bei weitem übertraf. Seine Mnemotechnik der chinesischen Schriftzeichen ist damit meines Erachtens der Höhepunkt der reinen Bildmnemonik geworden. Dass er die Dinge dabei unter-theoretisiert und über-bebeispielt hätte, finde ich nicht, denn der Verzicht auf abstrakte Aussagen ist ja gerade der Kern dieser Technik. Für die chinesischen Schriftzeichen formte Matteo Ricci also Bilder, und zwar solche Bilder, die sich in einem weitläufigen Anwesen (heute sagt man: „In einem Gedächtnispalast“) sinnvoll aufstellen lassen. Mein ursprünglicher Ansatz für eine Mnemotechnik der chinesischen Schriftzeichen war eben dieser: Den „Gedächtnispalast des Matteo Ricci“, der ja nicht existiert, für den es noch nicht einmal einen wirklichen Plan gibt, von dem Matteo Ricci aber geträumt haben mag, aufzubauen.
Später merkte ich dann aber, dass die Bild-Mnemonik Riccis zu statisch ist und außerdem der ungeheuren Menge von Schriftzeichen nicht gewachsen. Da kam mir der Ansatz Bunos aus der Lateinischen Grammatica zu Hilfe, denn er ist beweglich und auch für sehr große Mengen tauglich. Die „alte“ Bildertechnik wurde für mich dadurch sozusagen degradiert, denn ich würde sie nur noch punktuell verwenden, um z.B. innerhalb der Klumpen den einen oder anderen Akzent zu setzen oder um Ordnungspunkte festzulegen.
Im Gegensatz zu Matteo Ricci führte Johannes Buno die Mnemotechnik auf neue Wege. Er hat die Bildmnemonik beileibe nicht vernichtet, denn sie wird ja heute noch mit Erfolg eingesetzt, er hat ihr aber – obwohl dies vom Mainstream gar nicht wahrgenommen wurde – die alte beherrschende Stellung genommen.
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Re: Dr Yip Swee Chooi - Wörterbuchmethode - Fragen

Beitrag von Ulrich Voigt »

Klaus Horsten hat geschrieben:Aber auch das ist ernst und zielt auf Ernstes: Wenn das Fantasiebild kein tauglicher Haftkleber ist, soll der Mnemoniker es verwerfen und ersetzen; und das Spiel soll das Maximum an Lernstoff in einem Minimum an Zeit erinnerbar machen.
Natürlich stimme ich Dir hier zu! Grundsätzlich gibt es ja kaum etwas Ernsteres als das Spiel. Es ist nur so, dass der Ansatz, Bilder zu schaffen, die das Erinnern des Schriftzeichens tragen, mehr Freiheit lässt als der Ansatz, Elemente zu beschreiben, die das Schriftzeichen erklären.
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Re: Dr Yip Swee Chooi - Wörterbuchmethode - Fragen

Beitrag von Ulrich Voigt »

Klaus Horsten hat geschrieben:Wenn wir die Schachtel "Mnemotechnik" haben und fragen, wo ist diese Schachtel in China, dann übersehen wir alle die "versteckten Mnemotechniken", die sich in China verstreut finden:
Europa – China
Jede Kultur hat ihre Mnemotechniken, denn das Sich-etwas-Merken und das Sich-an-etwas-Erinnern sind tragende Bestandteile jeder Kultur. In einer so komplexen Kultur wie der chinesischen, in der das erfolgreiche Lernen eine so herausragende Rolle spielt, gibt es, wie Du ganz richtig andeutest, vielfältige Mnemotechniken, und zwar meist als Bestandteile oder Aspekte übergreifender Techniken, jedoch lassen sie sich nicht als eine geschlossene Technik zusammenfassen.
In Europa gibt es die Mnemotechnik dagegen als eine geschlossene Kunst, mit einer entsprechenden Geschichte und ziemlich klaren Grenzen. Indem ich diese Mnemotechnik auf chinesische Lerninhalte anwende, wische ich in der Tat alles vom Tisch, was von chinesischer Seite dazu mehr oder weniger Relevantes vorliegt, und beginne ganz von vorn. Natürlich stimmt es, dass ich bei einem solchen Vorgehen qua Mnemotechnik nichts Chinesisches dazulerne, aber darum geht es mir ja auch gar nicht. Der europäische Mediziner, der nach Asien geht, bringt sein europäisches Equipment mit und fragt nicht lange nach einheimischen Heilmethoden. Die Bevölkerungsexplosion in China belegt den Erfolg dieses unsensiblen Ansatzes, und im Grunde verhält es sich bei fast allen Techniken und Wissenschaften ähnlich.
Damit will ich sagen, dass die Aufgabe, chinesische Schriftzeichen in großen Mengen möglichst effektiv lernbar zu machen, europäische Methoden erfordert, die man an das „fremde“ Objekt heranträgt. Aus der chinesischen Kultur heraus ist diese Aufgabe nicht im Entferntesten so gut lösbar. Die Methoden aber, die man dafür benötigt, sind Methoden der Mnemotechnik, also Methoden, die den meisten Europäern verschlossen sind. Ich kann hier also ganz gemütlich als Pionier voranschreiten. Es kann mich nicht irritieren, dass Sinologen im Allgemeinen von Mnemotechnik nichts halten, es kann mich auch nicht irritieren, dass Chinesen nicht glauben mögen, dass ein Nicht-Chinese, der noch nicht einmal ihre Sprache beherrscht, etwas Relevantes zur Didaktik des chinesischen Schriftzeichenerwerbs zu sagen hat. Was zählt, ist allein der Erfolg.
Was aber das fremde Objekt betrifft, so glaube ich nicht, dass es Menschen, die in China groß werden, beim Erlernen der Schriftzeichen wesentlich einfacher hätten als wir Fremden. Sie haben nur den Vorteil der Vertrautheit. Vertrautheit ist aber nicht Kenntnis, denn sonst gäbe es ja überhaupt keine Analphabeten auf der Welt. Tatsache ist, dass man in China und Japan zehn Jahre lang fleißig sein muss, bis man 3000 Zeichen sicher beherrscht. Das Ziel muss aber sein, mit weniger Anstrengung in fünf Jahren 6.000 Zeichen zu beherrschen, und zwar auf höherem Niveau.
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