Esels Welt - Kapitel 1 Fragen, Gedanken, Interpretationen

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Martin
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Esels Welt - Kapitel 1 Fragen, Gedanken, Interpretationen

Beitrag von Martin »

Nach der wiederholten Lektüre von „Esels Welt“ über die Osterfeiertage erscheint mir ein Aufgreifen und Darlegen eigener Gedanken, Fragen und Interpretationen zu diesem Meisterwerk längstens überfällig. Deshalb ergreife ich nun die Möglichkeit, genanntes Ansinnen auf diesem Forum in die Tat umzusetzen. Gerade der Autor Ulrich Voigt selbst sowohl als die vielen Likanas- Leser und Mnemotechnik- Interessierten des brainboards bieten die allerbeste Ausgangslage für einen hoffentlich erquickenden Meinungsaustausch.
Zunächst ist jeweils ein Thread pro Buchkapitel angedacht; ob dies tragfähig ist und die Übersichtlichkeit nicht zu sehr schmälert, wird sich im weiteren Verlauf zeigen. Ggf. werden, aufgrund der etwas eingeschränkten technischen Optionen des Forums, eben mehrere Threads für ein Kapitel notwendig.


Kapitel 1 Maßstäbe

Unter „Maßstab“ ist nach meiner Textauslegung eine „bestimmte (Konstruktions-) Basis bzw. Grundlage für die Esels Assoziationen“ zu verstehen. Ich vermeide bewusst den Begriff Fundament, da dieser im Text selbst auftaucht („Die erste Generation: „Die Suche nach einem Fundament““), gewiss aber ebenso passend und anschaulich ist wie z.B. Grundfeste oder eben Basis/Grundlage. Gibt es vielleicht ein noch weitaus treffenderes Wort? Nur zu, Vorschläge sind immer willkommen.
Wie die Kapitelüberschrift bereits zeigt, gibt es nicht nur eine einzige Basis. Genau genommen arbeitet Ulrich Voigt 4 Basen bzw. Maßstäbe heraus. Doch dazu gleich mehr weiter unten.
Noch unbedingt wichtig hierbei ist, dass es explizit um „Esels Assoziationen“ geht oder gehen muss, also der Verbindung von Eselsbrücken, und nicht etwa um das Erstellen einzelner Eselsbrücken! Mit anderen Worten: Die Erinnerungsstützen B (das, was mich zum jeweiligen Erinnerungsinhalt A führt) für einzelne Erinnerungsinhalte A (das, was gemerkt und erinnert werden soll, z.B. einzelne Teile/ Stichworte einer Rede) inklusive der entsprechenden Verknüpfungen μ sind bereits erstellt und liegen vor, lediglich deren Verbinden zu einem einheitlichen Ganzen, quasi einem geordneten (u.U. durchaus auch ungeordneten) Konglomerat zueinander gehöriger Brücken (z.B. alle zu einer vollständigen Rede gehörigen Brücken/Erinnerungsstützen), wird in diesem Kontext genau betrachtet.

Nun aber zu den Maßstäben im einzelnen:

1) Maßstab der Antike „Örter“
Repräsentant: Simonides von Keos
Die Erinnerungsstützen B werden auf reale Örter (loci, topoi) platziert, sodass das im Vorhinein vom Mnemotechniker/mnemotechnischen Anwender festgelegte und durch die tatsächlichen, räumlichen Gegebenheiten (Zimmer, Häuser, Gärten, Straßen etc.) bedingte Abschreiten dieser Örter, vulgo die Route, den Maßstab mnemotechnischer Verbindungskonstruktion von gegebenen Eselsbrücken verkörpert.

2) Maßstab der 1. Generation „Bilder statt Örter“
Repräsentant: Johann Christian Freiherr von Aretin
Es erfolgt der Ersatz der realen Örter durch Zahlbilder-, charaktere und/oder Buchstabenbilder. Die Abfolge der zu den natürlichen Zahlen und den Alphabetbuchstaben (bei Aretin, Kästner oder Feinaigle also das deutsche Alphabet) erstellten Bilder und folglich, wenn man so will, der Zahlenstrahl respektive das Alphabet selbst bilden somit die zumindest für Personen mit entsprechender (Schul-) Bildung bereits nahzu elementar verfügbaren Basen zur Bildung der Esels Assoziationen.

3) Maßstab der 2. Generation „Ideen statt Bilder“
Repräsentant: Aimé Paris
Hier ist die Substitution der oben angesprochenen Zahl-, Buchstabenbilder durch Ideen mittels Anwendung des phonetischen Zifferncodes (major- system) entscheidend. Gestaltete die 1. Generation noch die Ziffern und Zahlen z.B. aufgrund ihrer geschriebenen, zweidimensionalen Form (oder auch gemäß ihrer Bedeutung, ihres Klanges etc.) in naheliegende Bilder um, so wird nun nicht mehr form- (bzw. bedeutungs-, reim-)abhängig und retinal, sondern nur noch lautbasierend und mental ausgearbeitet. D.h. den Buchstaben oder Buchstabenkombinationen, besser gesagt den Lauten/Lautkombinationen, die sich gemäß des Zifferncodes für Zahlen ergeben, werden Wörter respektive Ideen zugeordnet, die durch den Code und damit gleichzeitig durch die Abfolge der natürlichen Zahlen, eine gesicherte Esels- Assoziationengrundlage bieten.

4) Maßstab der 3. Generation „Geschichten statt Ideen“
Repräsentant: Hermann Kothe
Sind die ersten Generationen noch an klare Vorgaben gebunden, die sich als unmittelbare (direkt räumlich vorgegebene) Route oder mittelbare (indirekt durch Umwandlung von Ziffern, Zahlen bzw. Buchstaben in Bilder oder Ideen erzeugte) Abfolge der natürlichen Zahlen und Alphabetbuchstaben zeigen, so ist man nun bestrebt, die einzelnen Erinnerungsstützen miteinander in Form von Geschichten, eigentlich genauer Fadengeschichten, zu verbinden und den Handlungsablauf der Geschichte als Maßstab zu sehen.

Mit der 3. Generation oder generell mit den Mnemotechnikern des 19. Jahrhunderts fühlt sich Ulrich Voigt verbunden, dessen Methodik allerdings einen entscheidenden Schritt weiter reicht. Die in den Punkten 1) bis 4) zumindest implizit angesprochene „Permutationsabhängigkeit“ aller genannten Generationen und Maßstäbe durchbricht er mit seinen Geschichtenkonstruktionen bisweilen insoweit, als er anhand seiner Entwicklung von Klumpenmethode und Scheinklumpenmethode im Sinne eigenständiger mnemotechnischer Verfahren die starre Abhängigkeit von vorgegebenen Reihenfolgen und linearen Ordnungen zu durchbrechen vermag und letztlich einen völlig neuen „Spielraum“ für Konstruktionen von Esels Assoziationen erschließt.


Das also ist meine Sicht und Zusammenfassung des ersten Kapitels, welches in meinen Augen lohnte, nochmals in eigenen Worten wiedergegeben zu werden. Für Anregungen und Berichtigungen bedanke ich mich schon jetzt und freue mich auf das eine oder andere konstruktive Posting.

Nachtrag als direkte Frage an Ulrich:
Mit der genauen Unterscheidung und Definition von Bild, Szene, Gedanke, Idee, Vorstellung und Begriff habe ich mitunter gewisse Schwierigkeiten. Bild und Begriff werden auf S. 41 und 43 näher erläutert, aber selbst mit „Bild“ habe ich trotz erwähnter Erklärung so meine Probleme: Ist es nun eine Zeichnung, eine Skizze, ein Gemälde, also ein gemaltes Konterfei oder nur reales Objekt (vgl. S. 219), ist es nun real und/oder mental (vgl. S. 97, Anmerkung 67) oder eben alles zusammengenommen?
Für alle anderen, Bild und Begriff ausgenommen, finde ich keine explizite Bestimmung. Wenn es für Dich möglich ist, so bin ich diesbezüglich für einen „Klärungs“- Versuch dankbar.

PPS:
Alle weiteren Kapitel- Threads gedenke ich nicht mehr als Zusammenfassung, sondern als Potpourri einzelner Fragen zu ausgewählten Kapitelstellen zu gestalten. Nicht zuletzt hat ja Ulrich schon in einem anderen Forumsbeitrag eine vollständige Übersicht der sieben Kapitel zu seinem Buch gepostet.
Martin
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Re: Esels Welt - Kapitel 1 Fragen, Gedanken, Interpretatione

Beitrag von Martin »

Martin hat geschrieben:Die in den Punkten 1) bis 4) zumindest implizit angesprochene „Permutationsabhängigkeit“ aller genannten Generationen und Maßstäbe...
Die genannte "Permutationsabhängigkeit" wird in der jeweiligen Verwendung verschiedener Arten/Methoden von komplexen Assoziationen offenbar. So gründen die obigen Maßstäbe alle auf komplexen Assoziationen für Permutationen, nämlich:

Maßstab unter Punkt 1): Das Tableau
Maßstab unter Punkt 2): Die Garderobe (aus Ordnungsbildern bestehend)
Maßstab unter Punkt 3): Die Garderobe (aus Ordnungswörtern bestehend)
Maßstab unter Punkt 4): Die Kette (im Sinne von Fadengeschichte)
Ulrich Voigt führt in seiner Mnemotechnik schließlich den "Vertreter" der komplexen Assoziationen für Mengen ein:
Maßstab von Ulrich Voigt: Der Klumpen

Die dargelegten Maßstäbe sind, wenn man so möchte, als Grundlage, Erweiterung, Ergänzung oder auch Verbesserung im wechselseitigen Verhältnis zu sehen und schließen keinesfalls einander aus. Der versierte Mnemotechniker in spe kommt demzufolge nicht umhin, sich gezeigter "Verhältnisse" bewusst zu werden, um überhaupt zu elaborierter Technik in der Lage zu sein!
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Ulrich Voigt
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Esels Welt / Maßstäbe

Beitrag von Ulrich Voigt »

Da über Mnemotechnik sehr unterschiedlich geurteilt wird, hielt ich es für geboten, meine eigenen Maßstäbe auf den Tisch zu legen.

Mein Maßstab ist letztlich der, dass Mnemotechnik und Mnemonik heute von einer Qualität sein sollten, dass sie sich vor keiner Mnemotechnik irgendeiner Vergangenheit verstecken müssen, sondern im Gegenteil einen klaren Fortschritt darstellen. Damit wiederum wollte ich die Historiker, die meinen, kreative Mnemotechnik sei eine Sache längst vergangener Jahrhunderte, vor ein Problem stellen. Mit diesem Maßstab kann man dann jedenfalls Esels Welt und Das Jahr im Kopf messen.

Dass es in der Mnemotechnik und Mnemonik des 19. Jahrhundert so etwas wie einen wissenschaftlichen und technischen Fortschritt gegeben hat, erschien mir daher von herausragender Bedeutung zu sein. Vielleicht bin ich etwas zu ausführlich auf Details eingegangen, so dass am Ende die eigentliche Botschaft unklar wird: Einen Maßstab zu suchen für diejenigen, die Lust hätten, unserer geliebten ars memoriae et reminiscentiae wieder auf die Beine zu helfen.
Martin
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Re: Esels Welt / Maßstäbe

Beitrag von Martin »

Ulrich Voigt hat geschrieben:... hielt ich es für geboten, meine eigenen Maßstäbe auf den Tisch zu legen.

Deine Auflistung der Maßstäbe ist für mich gut nachvollziehbar. Gewiss kann man einwenden, bestimmte Positionen könnten, zumindest bei oberflächlicher Betrachtung, zusammengenommen werden, wie beispielsweise Bilder und Ideen und mit diesen sogar die Örter, womit das Ganze letztlich auf die Basis der drei Arten von komplexen Assoziationen (Garderobe, Kette, Klumpen) reduziert werden würde und nur noch drei Maßstäbe darzustellen wären. Aber die Darlegung der historischen Entwicklung, die ja einen ganz wichtigen Aspekt Deiner Arbeiten bildet, präferierte dann eben geradezu die gewählte Aufstellung in Kapitel 1 und wirkt auf mich wesentlich nützlicher bzw. aussagekräftiger als ein rigoros subsumiertes Pendant.

Gerade besagtes Kapitel aber hängt in meinen Augen, wenn ich es einmal salopp ausdrücke, in gewisser Hinsicht in der Luft und wiederum auch nicht. Die Wahl als Prolog und Einstieg in die „Esels“- Materie scheint, den Standpunkt des mnemonischen Neulings einmal unbedingt außer Acht lassend, unterm Strich dennoch richtig und gelungen zu sein, steckt es doch den „handwerklichen Rahmen“ ab, innerhalb dessen man sich als Mnemotechniker bewegt, nein, besser gesagt, den man „ausfüllen“ und im Idealfall sogar mittels eigener Innovationen erweitern sollte. Also mithin genau wie Du es so schön formuliert hast:
Einen Maßstab zu suchen für diejenigen, die Lust hätten, unserer geliebten ars memoriae et reminiscentiae wieder auf die Beine zu helfen.
Martin
Stammgast
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Beitrag von Martin »

Meine im ersten Beitrag erhobene Fragestellung bzgl. der Definition und Abgrenzung bestimmter Ausdrücke will ich aufgreifen und einen ersten, sehr bescheidenen Versuch starten, der hoffentlich noch ausgebaut oder komplett neu aufgesetzt wird. Betonen will ich hier ausdrücklich, keinen Klärungsversuch in philosophischer, theologischer oder anderer geisteswissenschaftlicher Hinsicht unternehmen zu wollen, sondern ausschließlich für den Bereich Mnemotechnik und für Esels Welt im Besonderen.
Beginnen wir mit der mnemotechnischen Einordnung/Erklärung von Bild, Gedanke, Idee und Vorstellung sowie Wort.

Vorstellung ist ein geistig- seelischer Inhalt, der mit Idee gleichgesetzt werden kann und sich aus wenigstens einer der folgenden Komponenten zusammensetzt:
Sinnlich:
Berührung (im Sinne von taktiler Vorstellung)
Bild (i.S.v. visueller Vorstellung) [s.S. 41 Esels Welt]
Geräusch, Ton (i.S.v. auditiver Vorstellung)
Geruch (i.S.v. olfaktorischer Vorstellung)
Geschmack (i.S.v. gustatorischer Vorstellung)
Abstrakt:
Gedanke (also eine abstrakte, d.h. der sinnlichen Wahrnehmung entzogene, nicht aus selbiger ableitbare Vorstellung) [s.S. 42 Esels Welt]

Aus der gewählten Einteilung ist bereits erkennbar, dass Mnemotechnik nicht allein auf Visualisierung gründet, wie das immer wieder gerne behauptet wird. Denn dann stünde uns Mnemotechnikern gewissermaßen „im Kopf lediglich ein Stummfilmkino fürs Arbeiten und Präsentieren unserer Werke zur Verfügung“, was nun einmal mitnichten der Fall ist.

Wörter sind sprachliche Stellvertreter oder Transmitter visueller (geschriebene Form) bzw. auditiver (gesprochene Form) Art für Vorstellungen bzw. Ideen. [s.S. 42 Esels Welt]

Bilder, Szenen und Geschichten sind vielleicht am ehesten anhand eines Beispiels voneinander abzugrenzen:
Betrachten wir eine Theateraufführung in mehreren Akten (oder eine Urlaubsreise mit diversen Besichtigungszielen) als Sinnbild für eine Geschichte, so ergibt der einzelne Akt oder u.U. auch ein größerer Teil eines einzelnen Aktes (Begebenheiten am Ort einer Sehenswürdigkeit) die Szene. Das während der Aufführung für einen Moment „eingefrorene“ Bühnenbild (ein beliebig während des Ausflugs geschossenes Photo) verkörpert schließlich das Bild.
Das Bild, als kleinster Teil einer Szene wie einer Geschichte, repräsentiert vorwiegend den statischen Charakter; die Geschichte wiederum stellt den dynamischen Aspekt in den Vordergrund und die Szene nimmt quasi eine Mittelstellung ein, die man als semistatisch respektive semidynamisch bezeichnen könnte.
Während das Bild wie die Szene nie wirklich in sich geschlossen sind und damit immer gewisse Interpretationsspielräume zulassen, wird das Ideal der Geschichte durch eine in sich abgeschlossene Geschichte repräsentiert, die eine auserzählte, abgeschlossene Handlung zum Besten gibt und mnemotechnisch gesehen keine Wünsche offen lässt, also hinreichend abgesichert insbesondere gegen das Hinzufügen oder Weglassen von „Fremdelementen“ ist.
Zuletzt geändert von Martin am Fr 06. Jul 2007, 16:43, insgesamt 4-mal geändert.
Klaus Horsten
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Beitrag von Klaus Horsten »

Maßstab

Der Maßstab für Mnemotechnik ist ein einziger. Formuliert in einer Frage: Wie gut merke ich mir etwas mit einem bestimmten Mittel? Das allein bildet das Unterschiedungskriterium, ob etwas gut oder schlecht ist.

In der Mnemotechnik kann ich immer sofort verifizieren: Wenn ich mir das, was ich mir merken will, tatsächlich merke, indem ich X anwende/befolge, dann ist X gut. Diesen Maßstab setzt kein Mensch fest. Es ist ein Maßstab, der sich im Nachhinein aus der Festellung ergibt, wie gut man sich etwas gemerkt hat.

Die "Wahrheit" einer Methode, ihre Zweckmäßigkeit, ist somit immer bald, nachdem einige Zeit verstrichen ist, überprüfbar.


Menomische Geschichten


Das Buch gipfelt in der Feststellung, dass es die mnemonische Geschichte ist, welche dazu befähigt, eine große Menge an Wissensinhalten merkbar zu machen.

Mnemonsiche Geschichten zu ersinnen ist eine Erfindung der Vergagenheit, so etwa von Johannes Buno.

Regeln für mnemonische Geschichten

Tatsächlich problematisiert Esels Welt wohl zum ersten Mal die Regeln, die es beim Schreiben solcher Geschichten anzuwenden gilt.

In meinen Augen sind derer noch viel zu wenig und ich sehe darin das Forschungs- und Experimentier-Feld der Zukunft.

Ulrich Voigt verwendet in seinen mnemonischen Geschichten vorzugweise die Techniken der descriptio rei und der descriptio personae. - An solchen positiven Feststellungen herrscht ein Mangel. Auch welche negativen Regeln zu beachten sind, diese aufzustellen, darin herrscht ein Mangel. Eine negative Regel ist zum Beispiel: Vermeide in einer mnemonischen Geschichte den inneren Monolog. Eine andere ist: Vermeide Dialoge. Der Maßstab ist immer die Merkbarkeit. Vor ihr haben die Regeln allein Gültigkeit.

Mnemonik heute

Wenn ich mir sämtliche Beiträge dieses Forums ansehe und überblicke - aber mir auch die diversen Memo-Bücher ansehe, die feilgeboten werden -, dann gibt es niemanden hier (ich spreche über Dritte), der, außer Ulrich Voigt, mnemonische Geschichten verfasst.

Den Grund sehe ich darin:
* Viele haben noch nicht begriffen, dass die mnemonsche Geschichten es wirklich ermöglichen, viele Inhalte dauerhaft zu erlernen.
* Viele können einfach nicht schreiben. Sie haben keine Lust dazu. Ist es für sie vielleicht wie ein aufgezwungener Schulaufsatz?

Man muss sich hinsetzen, und anfangen zu schreiben. Es ist eine Mnemotechnik, die nur für Literaten ist. Alle anderen sind davon ausgeschlossen. Wer nicht schreiben will, für den ist diese Möglichkeit verschlossen.

Das nächste ist, dass man seine Geschichten immer wieder umändern und verbessern muss. Wenn ich sehe, dass ich mir etwas nicht merken konnte, dann liegt es daran, dass dieser Teil der Geschichte schlecht geschrieben war.

Was haben wir von der Zukunft zu erwarten? Nicht viel. Denn die meisten werden sich weiterhin nicht mit mnemonischen Geschichten beschäftigen und deshalb auch nicht mitreden können, wenn es darum geht, über positive und negative Erfahrungen zu berichten, welche sich in einen Regelkanon gießen ließen.

Man muss sich auch nicht mnemonsichen Geschichten beschäftigen. Andere Methoden tuen es auch. Nur ist über die vielleicht schon das Wesentliche gesagt worden.

(Möge ich unrecht behalten!)
Martin
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Beitrag von Martin »

Klaus Horsten hat geschrieben:Der Maßstab für Mnemotechnik ist ein einziger. Formuliert in einer Frage: Wie gut merke ich mir etwas mit einem bestimmten Mittel?
Natürlich ist er das im eigentlichen Sinne, Klaus. Das ist aber fast schon ebenso der Sinn und Zweck von Mnemotechnik überhaupt. Provokant gesagt: In dieser von Dir eingeschlagenen Argumentationslinie wird das Fachgebiet zum eigenen Maßstab oder der Maßstab zum Fachgebiet.
Wenn ich mir das, was ich mir merken will, tatsächlich merke, indem ich X anwende/befolge, dann ist X gut. Diesen Maßstab setzt kein Mensch fest. Es ist ein Maßstab, der sich im Nachhinein aus der Festellung ergibt, wie gut man sich etwas gemerkt hat.

Das klingt mir zu sehr nach „jeder Jeck ist anders“ und lässt die Ausarbeitung gewisser Grundtechniken innerhalb der Mnemonik mit einem Mal komplett außer Acht. In diese Position möchte ich eigentlich nicht zurückfallen, denn das Bewusstsein hinsichtlich der bis dato vollzogenen Entwicklung in der Mnemotechnik war bzw. ist für mich eine große Hilfe und Stütze; nicht von ungefähr sind wir ja alle nicht mehr gezwungen sozusagen bei „Adam und Eva“ zu beginnen, sondern vielmehr in der komfortablen Lage auf bereits Erarbeitetes wenigstens im Sinne eines Grundgerüsts zurückgreifen zu können. Und dieses Erarbeitete hat, wenn man so will, über einen „jahrhundertelangen Feldversuch“ bewiesen, brauchbare Instrumente zu verkörpern bzw. hervorzubringen, obgleich der „Werkzeugkasten“ (hoffentlich/sicherlich?) bei weitem noch nicht vollständig ist.
Das Buch gipfelt in der Feststellung, dass es die mnemonische Geschichte ist, welche dazu befähigt, eine große Menge an Wissensinhalten merkbar zu machen.
Ja, zumindest hat Ulrich dies immer wieder u.a. hier auf dem brainboard betont. Für mich ist das aber nur ein Aspekt, zugegeben ein äußerst wichtiger, aber viel bedeutender, und da sind wir fast wieder bei dem Maßstab/den Maßstäben, ist für mich der praktische Nutzen bzgl. der Verwendung einzelner, im Buch ausführlich erläuterter Methoden oder vor allem Kombinationen eben dieser. Um es auf den Punkt zu bringen: „Die Mischung macht’s!“
In meinen Augen sind derer (Regeln für mnemonische Geschichten) noch viel zu wenig ...
Ja und Nein. Es ist bei der Konstruktion mnemonischer Geschichten in meinen Augen fast so, wie beim Aufstellen von „Verfahrensregeln für Autoren von Essays, Romanen u.ä.“: Je mehr man die Sache zerpflückt, umso weniger Substanz bleibt schließlich übrig. Es ist mithin schwierig, wirklich allgemein Verbindliches herauszuarbeiten. Auf persönlicher, „privater“ Ebene sieht das vielleicht schon etwas anders aus, aber hier, selbstredend kann ich nur für mich sprechen, lasse ich mich von meiner Intuition und Erfahrung leiten und vermeide tunlichst, ein „Kochrezept“ als Wegbegleiter mitzuführen.
Ulrich Voigt verwendet in seinen mnemonischen Geschichten vorzugweise die Techniken der descriptio rei und der descriptio personae.
Das ist sehr schön formuliert. :-)
Vermeide Dialoge.
Über Regeln kann man, wie oben schon angedeutet, vortrefflich streiten und grübeln. Dialoge z.B. sind durchaus ein Element innerhalb meiner Geschichten und dort auch gut brauchbar. So habe ich z.B. Geschäftspartner, die sich gerne ganz bestimmter Floskeln, Anekdoten oder Witze bedienen und damit durchaus merkenswerte Dialoge (zumindest in Kurzform) konstruierbar werden lassen, die für meine beruflichen Mnemo- Geschichten sehr gut anzuwenden sind.
Man muss sich hinsetzen, und anfangen zu schreiben.
Notierst Du alle Deine Geschichten tatsächlich? Oder nur vereinzelt, in Stichpunkten und bestimmte?
Es ist eine Mnemotechnik, die nur für Literaten ist.
Ja, da magst Du durchaus richtig liegen. Wie jemand nur Mnemotechnik an sich anwenden kann, wenn er über ein gerüttelt Maß an Phantasie verfügt, so gilt vielleicht für die Anwendung mnemonischer Geschichten, dass ein gewisses Potential an literarischer Qualität vonnöten scheint, um mit dieser Technik „erfolgreich“ sein zu können.
Aber alles ist lern- und entwickelbar und „Thomas Mann- Fähigkeiten“ sind nicht von vornherein unabdingbar. ;-)
Zuletzt geändert von Martin am Fr 04. Mai 2007, 12:56, insgesamt 1-mal geändert.
Klaus Horsten
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Beitrag von Klaus Horsten »

Martin hat geschrieben:Maßstab - ein einziger. Das ist aber fast schon ebenso der Sinn und Zweck von Mnemotechnik überhaupt. Provokant gesagt: In dieser von Dir eingeschlagenen Argumentationslinie wird das Fachgebiet zum eigenen Maßstab oder der Maßstab zum Fachgebiet.
Ja. Ich erinnere aber daran, dass ich mich damit in einer langen Traditionslinie befinde. Wesensbestimmungen sind zugleich Sollensbestimmungen. Wenn ich sage, das Wesen des Biskuitteigs ist ..., dann sage ich zugleich: ein Teig, um Biskuitteig zu sein, muss diese und jene Eigenschaften erfüllen, sonst ist es kein Biskuitteig.

Für mich geht es darum, eine Art von Wahrheitskriterium zu definieren, ein mathematisches Axiom gleichsam für die Mnemotechnik. Und das ist eben der Maßstab der Merkbarmachung: eine Geschichte ist dann gut, wenn sie Merkinhalte merkbar macht. Das bedeutet, jemand kann in literarkritischer Hinsicht einen schrecklichen Stil schreiben, nichtsdestotrotz kann dieser Stil in mnemonischer Hinsicht genial sein, eben deshalb, weil der Text das Kriterium erfüllt.
Das klingt mir zu sehr nach „jeder Jeck ist anders“
Da bin ich ganz bei Dir. So ist es auch nicht gemeint. Ansonsten würde ich mir nicht das gemeinsame Ausarbeiten von Text-Regeln wünschen, wenn ich nicht an die Übersubjektivität der Regeln glauben würde.
Das Buch gipfelt in der mnemonischen Geschichte - nur ein Aspekt
Ja. Wenn es Ulrich hier nicht betont hätte, wäre es mir aus dem Buch selber vielleicht nicht so klar geworden. Ich bin froh, dass mich Ulrich - als Wegweiser - auf diesen Weg geführt hat.
„Die Mischung macht’s!“
Auf jeden Fall. Generell sogar würde ich sagen, dass eine Integration verschiedener Elemente - sogar gegensätzlicher - stets zur Bereicherung beiträgt.
Regeln = Zwang
Ein Analgon: Die Musiker des Free Jazz merkten nach einiger Zeit, dass es viel besser ist, Regeln zu haben, an die sie sich halten, weil sie mit ihrer Hilfe viel schönere Musik machen können.
Es ist schwierig, allgemein Verbindliches herauszuarbeiten.
Darin sehe ich denn Sinn und die Aufgabe für Leute, die mnemotechnische Bücher schreiben. Derzeit sehe ich bei den meisten nur eine Wiederholung dessen, was ich schon bei Döbel 1707 nachlesen kann: Keyword-Methode, Verschlüsselung von Zahlen zu Wörtern, ... Das ist ein Geldverdienen. Keine Produktivleistung. Und zu sagen: Ich bin Gedächtnissportler und kein Mnemotechniker ist mir zu billig, wenn man ein Buch schreibt. Dann soll man kein Buch schreiben, in dem man nur wiederholt.

Über Regeln kann man vortrefflich streiten
Genau das würde ich sehr gerne tun, aber es streitet niemand mit mir.
Notierst Du alle Deine Geschichten tatsächlich?
Ja. Nur so sehe ich, wie ich sie verbessern kann. Und bei einer Wiederholung der Lerninhalte brauche ich nur die Geschichte durch zu lesen. Wenn sie gut ist, dann bleibt sie im Gedächntnis haften.
Es ist eine Mnemotechnik, die nur für Literaten ist.
Aber alles ist lern- und entwickelbar.
Auf jeden Fall! Denn es geht nicht darum, schön zu schreiben, sondern, wie oben gesagt, nur darum, so zu schreiben, dass man sich die Dinge merkt. Man kann auch furchtbar scheißlich [so!] schreiben, das ist völlig egal, Hauptsache, man merkt sich die Sachen. Aber in meinen Augen empfiehlt es sich zu schreiben, das heißt, zu fixieren, ansonsten ist es schwer, 1. sich zu verbessern, 2. Wiederholungen nach langer Zeit der Pause vorzunehmen.
Martin
Stammgast
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Registriert: Mo 04. Apr 2005, 20:48

Beitrag von Martin »

Klaus Horsten hat geschrieben:Für mich geht es darum, eine Art von Wahrheitskriterium zu definieren, ein mathematisches Axiom gleichsam für die Mnemotechnik.
Das ist ein verständliches und löbliches Ansinnen. Um das Stichwort mathematisches Axiom aufzugreifen, sei jedoch angemerkt, dass eben in der Mathematik regelmäßig (soweit ich das überblicke) nicht ausschließlich ein Axiom, sondern mehrere vorgegeben sind. Man denke beispielsweise nur allein an die sog. Euklidsche Geometrie mit ihren 4 bzw. 5 Axiomen. Und dann sind wir beinahe ganz schnell wieder bei den Maßstäben der Mnemotechnik angelangt, wie sie Ulrich in Kapitel 1 von Esels Welt beschreibt, und nicht bei einem einzigen.
Allerdings kann ich mich auch mit Deinem Gedanken eines einzigen Maßstabs für die Mnemotechnik (den Ulrich gemäß seines obigen Beitrags ebenfalls bevorzugt) sehr wohl anfreunden; die vorgelegten Maßstäbe in Esels Welt blieben dann als Grundprinzipien-, funktionen (oder wie man es sonst ausdrücken mag) bestehen. Damit schließt sich auch der Kreis, denn bereits im ersten Beitrag habe ich ja den Maßstab in seiner „Esels Welt- Bedeutung“ als „(Konstruktions-) Basis bzw. Grundlage“ auszulegen versucht.
Aber in meinen Augen empfiehlt es sich zu schreiben, das heißt, zu fixieren, ansonsten ist es schwer, 1. sich zu verbessern, 2. Wiederholungen nach langer Zeit der Pause vorzunehmen.
Sicher, Klaus, da pflichte ich Dir bei. Das entscheidende Moment hierbei bleibt zum einen die Anzahl und der Umfang der erstellten Geschichten, zum anderen deren Anwendungsfrequenz. Ist letztere hoch, dann habe ich eher geringen Bedarf das Erdachte zu Papier zu bringen (z.B. beim Vokabellernen mit der Technik der wechselnden Phantasien). Sind dagegen Anzahl und Umfang groß und/oder die Frequenz niedrig, so wird ein Notieren (wenigstens in Stichworten oder im Storyboard- Stil von Filmdrehbüchern, am besten aber wirklich ausformuliert) unerlässlich.
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