"Mnemonology" von J. Worthen und R. Hunt, 2011

Hier findet man Rezensionen über Bücher (und teilweise andere Medien), welche die Thematik des Boards betreffen.

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Boris
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"Mnemonology" von J. Worthen und R. Hunt, 2011

Beitrag von Boris »

Mnemonology von J. Worthen und R. Hunt. Amazon-Link

Mnemonology ist ein 2011 bei Psychology Press bisher nur auf Englisch erschienenes, wissenschaftliches Fachbuch über die psychologische Forschung von, mit und über Gedächtnistechniken.

Die Autoren sind beide Psychologieprofessoren. James Worthen forscht und lehrt an der Southeastern Louisiana University, Reed Hunt an der University of Texas. Berater und Mitinitiator des Buches ist Henry Roediger, einer der berühmtesten Gedächtnisforscher der Gegenwart.

Die Autoren definieren diesen neuen Begriff "Mnemonology" als die Forschung über die Verbesserung der Gedächtnisleistung. Sie sehen das als nötig an, da der Begriff Mnemotechniken in der wissenschaftlichen Forschung häufig zu negativ belastet ist und sich zu sehr auf wenige formale Methoden wie die Routenmethode beschränkt.

Das Buch wird eingerahmt von zwei Kapiteln zur Frage, ob es einen Platz für Mnemotechniken in der modernen Psychologie gibt. Vorweg: Die Autoren bejahen dies sehr deutlich. Im Kapitel 1 und 2 werden die Gedächtnistechniken dargelegt mit leichtem Blick auf die Historie. Dabei wird besonders beachtet, welche Gründe es dafür gibt, dass es insgesamt immer noch sehr wenig Forschung an Gedächtnistechniken gibt. Unter anderem haben die Autoren die Anzahl an Forschungsarbeiten erhoben und festgestellt, dass es zuletzt einen Peak in den 70ern und 80ern gab, als immerhin 3 bis 4% aller Forschungsarbeiten zum Thema Gedächtnis etwas mit Mnemotechniken zu tun hatten (Definition: Als Schlagwort wurde von den jeweiligen Wissenschaftlern entweder mnemonic oder memory aid angegeben). Danach ließ das Interesse der Forschung aber wieder stark nach. Die Gründe die im Buch genannt werden sind vielfältig. Unter anderem der Ursprung der modernen Gedächtnisforschung als Forschung über die grundlegenden Prozesse des Gedächtnisses hätte die als künstlich wahrgenommenen Gedächtnistechniken an den Rand gestellt. Der Erfolg des Behaviorismus hat noch dazu beigetragen, weil Forscher lieber Beobachten statt Beeinflussen (Gedächtnistraining ist ein massiver Einfluss).

In den weiteren Kapiteln werden Gedächtnistechniken angesprochen, aber auch andere Arten von Gedächtnishilfen (intern wie extern) beschrieben, da die Autoren betonen, dass beide Forschungsarten zusammengehören. Dabei geben Sie einen sehr umfassenden Einblick in die wissenschaftliche Literatur hierzu. Das Literaturverzeichnis hat 17 Seiten mit insgesamt über 300 wissenschaftlichen Quellen. Wer also für Fach-, Studien- und sonstige Arbeiten Quellen braucht, hier werdet ihr definitiv fündig.

Meine Meinung: Für jeden der sich für die wissenschaftliche Forschung in Bezug auf Gedächtnistechniken interessiert und Englisch versteht ein Muss. Das Buch ist trotz des Fachanspruchs gut verständlich geschrieben. Alle Konzepte werden erst eingeführt bevor sie erwähnt werden. Natürlich ist dies kein Lehrbuch in Gedächtnistechniken, aber dennoch wird jede Methode mit einem Beispiel erläutert. So ist zumindest immer klar, wie die Autoren einzelne Techniken verstehen - was ja auch nicht immer eindeutig ist. Das Fazit, dass weitere Forschung hierzu sehr anzuraten ist und die gegenwärtige Skepsis gegenüber Gedächtnistechniken in der wissenschaftlichen Forschung wie der Pädagogik unangemessen negativ ist, ist gut hergeleitet. Natürlich freut es mich auch, da es zu 100% meiner Meinung entspricht.
Nr1
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Beitrag von Nr1 »

Vielen Dank für diese hilfreiche Rezension, auch wenn sie die nicht zu ignoriende Nebenwirkung hat, dass ich das Buch nun unbedingt lesen möchte!

35 Euro ist für mich schon ne Wucht als armer Student ;) Wie lange dauert es wohl, bis man das Buch in der Bücherei bekommt?
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Boris
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Beitrag von Boris »

Oft hilft es, das Buch der eigenen Bücherei vorzuschlagen. Die haben meist Eingabeformulare dafür auf ihren Webseiten.

Büchereikatalog Bayern zeigt an, dass es an der StaBi und der Uni Regensburg vorliegt.
Nr1
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Beitrag von Nr1 »

Ok, ich danke Dir für die Infos!
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Andi
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Beitrag von Andi »

Boris hat geschrieben:Das Literaturverzeichnis hat 17 Seiten mit insgesamt über 300 wissenschaftlichen Quellen. Wer also für Fach-, Studien- und sonstige Arbeiten Quellen braucht, hier werdet ihr definitiv fündig..
Suuuppppper. :D :D :D
Das hat mir immer irgendwie gefehlt trotz unserem super BrainBoard. Herzlichen Dank Boris für die Rezension, werde es mir natürlich anschaffen und 35,00 Euro für ein Fachbuch ist fast Standard ;-)

Denkst du das Buch wird’s auch bald auf Deutsch und anderen Sprachen geben?
„Die Leistungsfähigkeit des Hirns nimmt zu, je mehr man es in Anspruch nimmt.“
Alfred Herrhausen (1930-1989), dt. Bankier
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Boris
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Beitrag von Boris »

Da weiß ich leider nichts dazu.
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µBx
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Beitrag von µBx »

Danke für die Info das Buch wird gleich bestellt :)

Eigentlich etwas schade
This book bridges the gap between basic memory research and mnemonic applications through a careful analysis of the processes that underlie effective memory aids
das war eins meiner Ziele nach Beendigung des Studiums naja dann muss ich die Latte wohl noch höher setzen :D

Edit: Ich konnte es nicht abwarten und habe mir jetzt die Kindle edition geholt (ausserdem ist die billiger^^) ich poste meinen ersten Eindruck mal morgen
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µBx
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Beitrag von µBx »

Mhm verstehe ich das falsch oder behaupten die Autoren das Major System wurde von Stanislaus Minik von Wennshein aka Johan Just Winkelmann entwickelt ? Mit Quellenangabe von Lorayne 1957... Hr. Voigt schreibt dass das Major System in Indien entwickelt wurde? Klar, es sind andere Phoneme aber in Mnemonology steht Winkelmann hätte das allgemeine Prinzip entworfen Zahlen mit Phonemen zu verbinden.
(Seite 7 im eBook, Kapitel 1 letzter Absatz von 'Introduction of the Scientific Method)

Bin noch am Anfang aber habe mal 2-3 Seiten quer durch jedes Kapitel gelesen, sieht bisher absolut super aus <3 absolut empfehlenswertes Buch !
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Hansolka
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Beitrag von Hansolka »

Winckelmann war entscheidend für den Siegeszug der Buchstabenkodierung von Ziffern in Europa.
Lustig übrigens, wie sein Name Johann Justus Winckelmann aka Stanislaus Mink von Wennsheim / Wenusheim / Winusheim immer wieder gern verballhornt wird.

Das Grundprinzip stammt wohl aus Indien (siehe Wood, Mind and Memory Training). In Europa griff es Herigone noch vor Winckelmann auf. Beide haben es (vielleicht) unabhängig voneinander entwickelt.

Entscheidend für den Siegeszug der phonetischen Kodierung war wohl Aime. (siehe wiederum Voigt, Esels Welt).

Das sich Loraynes Werk SPM durch Quellenangaben auszeichnet, konnte ich bisher nicht feststellen. Er erwähnt nicht einmal B. Zufall, auf dessen Werk von 1940 er "aufbaut". (Zufall und Lorayne waren bzw. sind in Insiderkreisen bekannte Zauberkünstler. Zufalls Werk ist ein Klassiker. L. kennt es mit Sicherheit).
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Enzyklopädie der Wochentagsberechnung * Melencolia I - Magic Squares for the Mental Entertainer * Smart Methods for 4x4, 5x5 and 6x6 Magic Squares * 172 A4-pages * version 3.40
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Ulrich Voigt
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James B. Worthen and R. Reed Hunt, Mnemonology.

Beitrag von Ulrich Voigt »

James B. Worthen and R. Reed Hunt, Mnemonology. Mnemonics for the 21st Century. New York 2011

Das Buch hat ein lustiges Cover, ist jedoch ein wissenschaftliches Sachbuch.

Der von den Autoren neu eingeführte Begriff mnemonology bezeichnet die wissenschaftliche Erforschung alles dessen, was das Erinnern ermöglicht bzw. erleichtert, insbes. auch der Mnemotechnik. Die Wissenschaft, von der hier die Rede ist, ist die Psychologie. Es geht also einerseits (und das ist die Hauptsache) um wissenschaftliche Bewertung vorliegender mnemotechnischer Methoden, andererseits (und dass dies möglich ist, liegt den Autoren besonders am Herzen) um Anregungen für den richtigen Umgang mit Mnemotechnik und für denkbare Neuansätze innerhalb der Mnemotechnik. Wissenschaftliche Bewertung heißt: Quantitativ und qualitativ ausgewertete Testreihen mit Versuchspersonen. Das Buch beansprucht, die gesamte relevante wissenschaftliche Literatur zu kennen und vermittelt damit einen sehr fundierten Eindruck.

Unterschieden wird zwischen Basic Cognitive and Mnemonic Processes (Chapter 3) und Formal Mnemonic Systems (Chapter 4)
Basic Cognitive and Mnemonic Processes sind A basic (encoding / storage / retrieval), B specific (organization / elaboration / distinctive processing / mental imagery).
Formal Mnemonic Systems sind die bekannten Methoden der Mnemotechnik: loci / peg-words / keywords / major.

Das Hauptinteresse der Autoren richtet sich auf A. Sie wollen den kreativen Lerner dazu ermuntern, sich für seinen Lernstoff Mnemotechniken auszudenken oder sich nach bereits ausgearbeiteter Mnemotechnik umzusehen, wobei, wie bereits gesagt, ihr Hauptaugenmerk auf “simple mnemonics“ und nicht auf “formal mnemonics“ liegt.

Zu all den genannten Punkten liegen detaillierte Testreihen vor, in denen Vor- und Nachteile gleichermaßen gesichert wurden. Die Ergebnisse sind, wie es sich in der Wissenschaft gehört, differenziert: Für welche Themen, für welche Zielgruppen, für welche Zeiträume ist so eine Methode günstig im Vergleich mit "normalen" Methoden?

Ich muss sagen, dass das Buch eindrucksvoll und nützlich ist, ich finde auch den Begriff Mnemonologie sinnvoll, sinnvoll, aber nicht zwingend notwendig.

Das Buch empfiehlt nicht einfach nur den Gebrauch von Mnemotechnik und die wissenschaftliche Erforschung von Mnemotechnik, sondern begründet seine Empfehlung differenziert und - wie ich finde - sehr überzeugend.

Soviel zu den Vorzügen des Buches:

Ein nicht unerheblicher Mangel des Buches ist leider in der angelsächsischen wissenschaftlichen Literatur nur allzu verbreitet: Die Beschränkung auf englischsprachige Texte.

Der hohe Anspruch der Autoren, die Mnemotechnik hinsichtlich ihrer Methoden vollständig zu übersehen und zu verstehen ("to subject the best of mnemonics to scientific analysis", p. 15), kann so nicht erfüllt werden. Z.B. ist ihnen die Klumpenmethode nicht bekannt. "Story mnemonics" nennen sie daher das, was ich als Fadenmethode bezeichne, womit sie allerdings dem hiesigen Sprachgebrauch (Geschichtenmethode = Fadenmethode) entsprechen. Das bedeutet zugleich, dass es zur Klumpenmethode noch keine psychologischen Untersuchungen gibt. Aus meiner Sicht sind Worthen / Hunt daher teilweise antiquiert.

Dagegen fällt weniger ins Gewicht, dass sie - wieder im Einklang mit angelsächsischen Gewohnheiten - Errungenschaften nostrifizieren und z.B. die keyword Methode für eine Erfindung des Psychologen R.C. Atkinson (1975) halten bzw. ausgeben.
Klaus Horsten
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Beitrag von Klaus Horsten »

z.B. die keyword Methode für eine Erfindung des X halten
Das ist eine Form des Stillstands in der Geschichte der Mnemotechnik: Dass Leute von anderen lernen, es vergessen oder verschweigen, und dann die Sache als ihre eigene Erfindung ausgeben; oder andere geben es als ihre Erfindung aus, wie in diesem Fall. So hat man immer wieder den Eindruck, als ob etwas Neues erfunden worden ist, obwohl es nicht stimmt.

Etwas mit neuen Worten zu belegen, kann sachlich auch einen Stillstand bedeuten: Old wine in new bottles - wodurch nicht jeder Wein besser wird.

Ich glaube, dass noch viel in den Klöstern liegt, bei den Franziskanern, Benediktinern, Jesuiten, was noch nicht geborgen ist; da muss man auch Latein können.

Bücher wie: Host, Johannes: Congestorium artificiosae Memoriae, 1533, das, obwohl es schon in manchen Büchern erwähnt wird, vielleicht noch viel mehr ausgewertet werden sollte. Leider ist es mir noch nicht gelungen, es zu bekommen.
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Boris
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Beitrag von Boris »

Die sehr spannende weitere Diskussion habe ich abgeteilt und in das Unterforum "Geschichte & Methoden der Mnemotechnik" verschoben.
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Ulrich Voigt
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Beitrag von Ulrich Voigt »

Hansolka hat geschrieben: (siehe wiederum Voigt, Esels Welt).
Ich habe inzwischen meine Ansicht über den Ursprung der Ziffern-Buchstaben Codes revidiert und habe meine - allzu romantische, duch die Quellen nicht gedeckte - Meinung über ihren indischen Ursprung aufgegeben. In der neuen Auflage von Esels Welt werde ich die These erhärten, dass Hérigone und Winckelmann von einander unabhängige Erfinder waren.
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Ulrich Voigt
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Beitrag von Ulrich Voigt »

Boris hat geschrieben:Die sehr spannende weitere Diskussion habe ich abgeteilt und in das Unterforum "Geschichte & Methoden der Mnemotechnik" verschoben.
Leider sind ein paar Beiträge mit verschoben worden, die besser hier geblieben wären.
Pat
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Beitrag von Pat »

Ich habe inzwischen meine Ansicht über den Ursprung der Ziffern-Buchstaben Codes revidiert und habe meine - allzu romantische, duch die Quellen nicht gedeckte - Meinung über ihren indischen Ursprung aufgegeben. In der neuen Auflage von Esels Welt werde ich die These erhärten, dass Hérigone und Winckelmann von einander unabhängige Erfinder waren.
Ich halte die Wahrscheinlichkeit für hoch, dass es solche Systeme in Indien bereits lange vor den beiden Herren gab. Sie kamen halt nicht nach Europa und so konnte sich irgendjemand als neuer Erfinder fühlen.

Die Schilderung der Vorführung eines Gedächtnismeisters beinhaltete auch das Einprägen von längeren Zahlen. Ich gehe nicht davon aus, dass die fortgeschrittenen Techniken des Meisters nicht auch einen gewissen Zahlencode beinhalteten.
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