Ulrich Voigt hat geschrieben:man muss davon ausgehen, dass Ricci mehr wusste als das
Ich möchte in diesem Posting - und auch noch später - auf diese Problematik eingehen.
Wieder darf man etwas nicht übersehen, nur weil es offensichtlich ist.
Die Antwort (eine unter anderen, aber ein zentrale) lautet:
Rhetorik
Das ganze Unternehmen Riccis, der Gund, überhaupt in China zu sein, war ein rhetorischer: Es ging um Überreden und Überzeugen, um Persuasion. Das Ziel war Mission. Man muss das festhalten und darf nicht auf ein anderes Thema springen: Es geht hier um einen Zusammenhang von Rhetorik und Mnemotechnik.
Für Ricci war es selbstverständlich, die memoria als einen der 5 Teile der antiken Rhetorik zu sehen: 1. inventio, 2. dispositio, 3. elocutio, 4. memoria und 5. actio.
Wir kennen Überbleibsel aus der Schule, zumindest 1-3, in Redeübungen auch 4 und 5:
1. inventio = Stoffsammlung
2. dispositio = Anordnung der Argumente, z.B. Pros auf der einen, Contras auf der anderen Seite
3. Verprachlichung - Überlegung, wie man es formulieren soll
4. Das ganze auswendig lernen ...
5. ... weil es mündlich vorgetragen wird
Cicero und Quintilian sind 2 namhafte Vertreter der Rhetorik, die Ricci laut Spence - auf dem ich mich hier beziehe - auswendig konnte (S. 141).
Jetzt muss man das aber aufs Chinesische übertragen. Ich habe ein Buch über die chinesische Rhetorik geschrieben und stelle hier 30 rhetorische Figuren des Chinesischen vor:
http://www.chinesischerhetorik.at/
Ricci konnte nicht nur die chinesischen Schriftzeichen, sondern er konnte die Texte auch strukturieren, und zwar nach dem elocutio-Teil der antiken Rhetorik. Darin war er geschult, das war ihm selbstverständlich. Er hat die Figuren-Namen, wie ich sie hier vorstelle, nicht nach diesen Namen gekannt, aber ich bin überzeugt, dass er sie der Struktur nach erkannt hat. Das heißt, er hatte Syntax-Muster, Muster, wie man Sätze im Chinesischen aufbauen kann, und zwar nicht grammatikalisch sondern rhetorisch. Die Grammatik spielt hier ein völlig untergeordnete Rolle. Mit Hilfe der Grammatik merkt man sich in den meisten Fällen nicht die Syntax-Struktur von Sätzen.
Ich nehme ein Beispiel heraus. (Gunther Karsten hat diesen Satz einmal auf seiner Webseite zitiert.)
Er lautet:
學而不思則罔, 思而不學則 殆.
Xue er bu si ze wang, si er bu xue ze dai.
Lernen und nicht denken ist nichtig, denken und nicht lernen ist gefährlich.
(Siehe
http://www.chinesischerhetorik.at/27.html)
Das ist ein Huiwen. Es kommt immer wieder vor. Die Figur unterstützt das Merken. Man merkt sich, wenn man solch einen Satz hört und ihn durschaut hat, den Satz fast von selbst. Wenn Ricci einen Satz las mit der Struktur ABBA: lernen/denken - denken/lernen, dann konnte er sich im Gedächtnis dieses Muster merken, musste sich die beiden Wörter "lernen" und "denken" merken, und wusste dann beim Aufsagen, dass die beiden Wörter im zweiten Teilsatz wieder kehren. Zu wissen also, dass es die Figur "Umkehrschrift" gibt, hilft beim Memorieren und Rezitieren des Textes aus dem Gedächtnis.
Nun mag diese eine Figur weniger häufig vorkommen.
Ein Muster, das jedem, der klassische chinesische Texte liest, bekannt ist, ist der "Parallelismus" oder das "Isocolon".
"Iso - cola" , gleiche Kola, also Satzabschnitte, das ist der Begriff aus der griechischen Rhetorik. Man sehe sich bitte die Beispiele hier an
http://www.chinesischerhetorik.at/24.html . Die Chinesen nannten das natürlich anders. Hier sind drei Teilsätze gleich aufgebaut. Das Wissen um dieses Muster hilft wiederum, den Ablauf der Zeichen zu memorieren und wieder zu geben.
Ein drittes wesentliches Beispiel, gerade was den "Achtfüßigen Aufsatz" (ba gu wen) angeht, eine Schriftform, welche in den Beamtprüfungen beherrscht werden musste, ist dieses Muster
http://www.chinesischerhetorik.at/28.html , das ich hier jetzt nicht näher erläutern will.
Ich beantworte also die Frage: Was hat Matteo Ricci befähigt, 500 Zeichen rasch zu memorieren und wieder zu geben, damit:
1. Er beherrschte die Schriftzeichen.
2. Er beherrschte zudem aber auch die chinesischen Figuren, deren Verwandtschaft ihm aus dem elocutio-Teil der alten Rhetorik vertraut war. Sie erleichterten das Aufperlen der Schriftzeichen in der richtigen Reihenfolge.