Mnemonik

Hierein gehört alles was die Geschichte und Methoden der Mnemotechnik betrifft. Z.B. Was ist die Geschichtenmethode? Was sind Routen? Des Weiteren geht es auch um die historische Betrachtung und Analyse der Mnemotechnik.


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Ulrich Voigt
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Mnemonik

Beitrag von Ulrich Voigt »

Unter Mnemonik verstehe ich die Theorie der Mnemotechnik. Der Mnemotechniker konstruiert Eselsbrücken oder Hilfsmittel für Eselsbrücken, der Mnemoniker denkt über Eselsbrücken und ihre Drumherum nach, indem er versucht, ihre Prinzipien zu ergründen, sie begrifflich zu analysieren, sie als Produkte menschlichen Denkens und Strebens zu begreifen.
Simonides von Keos nennt man mit Fug den Vater der Mnemotechnik, da man ihm zutraut, daß er zuerst mit einer bestimmten Assoziationsmethode Schwieriges merkbar gemacht hat.
Aristoteles nenne ich den Vater der Mnemonik, insofern er als erster versucht hat, eine bereits etablierte Praxis mnemotechnischen Wirkens begrifflich zu verarbeiten. (Esels Welt S.138)
Allerdings ist Mnemonik nicht nur abhängig von einer bestimmten bereits vorliegenden mnemotechnischen Praxis, sondern umgekehrt ist es auch so, daß von der Mnemonik Impulse auf die mnemotechnische Praxis zurückstrahlen. Das ist auch dann der Fall, wenn (wie ja meistens!) der Mnemoniker selbst gar kein Mnemotechniker ist oder nur ein dilettantischer. Aristoteles z.B. war nach allem, was man aus seinem Werk erschließen kann, selbst kein Mnemotechniker, er kannte sich nur eben so in etwa aus. Dasselbe gilt für Hegel, der ein ganz bedeutender Mnemoniker war und dazu die Mnemotechnik in Bausch und Bogen verurteilte.
Ich scheine hier eine seltene Ausnahme darzustellen, denn Esels Welt ist eine mnemonische und Das Jahr im Kopf ist eine mnemotechnische Arbeit, und ich selbst trete obendrein noch gelegentlich als Gedächtnisakrobat und Gedächtnissportler auf.

Nach einer längeren Einleitung beginnt Esels Welt auf S. 32 mit folgender Fragestellung:
"Welches sind aber die wirklich grundlegenden Verfahren der Mnemotechnik und auf welchen Prinzipien beruhen sie? Welches sind eigentlich die entscheidenden Regeln, Prinzipien oder Axiome, durch die Mnemotechnik definiert ist?"

@Isegrimm: Über die Ansicht, daß Visualisierung ein mnemotechnisches Grundprinzip sei, schlage ich vor, zunächst noch einmal mit Esels Welt S.32-36 zu vergleichen. Bedenke auch, daß schon Aristoteles` Auffassung der Mnemotechnik Visualisierung nicht benötigt, denn seine topoi (=loci) sind bereits bloße Begriffe (Esels Welt S. 144). Es mag sein, daß manche Leute denken, die antike Mnemotechnik sei wesentlich an Visualisierung gebunden, aber das trifft nicht zu.
Was aber sehr wohl zutrifft, ist, daß Visualisierung ein oft eingesetztes Mittel der Mnemotechnik darstellt, das in der antiken Mnemotechnik dominierte. Manchmal aber nennt man etwas so, obwohl es bei genauer Betrachtung das gar nicht ist: vgl. dazu Hegels Kritik der Visualisierungsidee Esels Welt S. 61 und S. 89.

U.V.
Ulysses
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Beitrag von Ulysses »

Danke, Ulrich, für diese ausgezeichnete und akkurate Definition.
Pat
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Beitrag von Pat »

Vielen Dank für Ihre sehr gute Kurzdarstellung.

Aus meinem eigenen Blick heraus:
Mir fällt es schwer, Mnemoniker ohne mnemotechnische Erfahrung ernstzunehmen, die sich in ihren Schriften über eine bloße, bescheidene Schilderung des Stoffes hinaus mit Ikarusfedern leicht ins Land der Beurteilung begeben.
Wie will man etwas kritisieren, dessen Wesen man nicht erfaßt hat?
Eine derart komplexe Disziplin wie die der mnemotechnischen Anwendung kann man, allein wegen ihrer so direkten Verbindung mit der Funktion des Geistes und des Gehirns, nicht, gleich einem Archäologen, von außen betrachten.

Man mag nach verbalen Widersprüchlichkeiten in den Schilderungen derer suchen, die die Kunst ausüben.
Man wird aber nie wirklich wissen, ob man nun einen realen Widerspruch und eine globale Selbsttäuschung der mnemotechnischen Zunft (Die es heute so gar nicht mehr gibt wie noch zu Hegels Zeiten) gefunden hat oder ob man schlicht blind-beckmesserisch mit dem Auge des Nicht-einmal-Amatuers herumstolpert und im Fallen zu meinen glaubt, die gerade erforscht Welt falle um einen herum und man selbst stünde fest auf vernünftigem Boden.
Gerade in der selbstüberschätzenden Meinung, die Funktionsweise der Mnemotechnik auch ohne eine gründliche Erforschung ihrer inneren Wirkungsweisen und somit ohne eine Sicht aus dem Lichte eigener Erfahrung heraus im Geiste simulieren und auch sogleich beurteilen zu können, liegt für mich die Hybris Hegels und, ich muß es leider sagen, die fehlende wissenschaftliche Professionalität von Yates, soweit sie mehr als nur schildern will.
Aber das Schildern allein, wen nützt es bei einer lebendigen Betätigung des Geistes? Das Forschen und das forschende Urteilen müssen stets das Ziel geistigen Wirkens sein.

Mir mag ein Pförtner (Verharrend in bewußter Ungebildetheit von den folgenden Dingen) schildern, welch schöne farbige Kurven auf den Ausdrucken zu sehen sind, die die Drucker im Teilchen- beschleunigerzentrum nach den Partikelkollisionen ausspucken, er kann mir das Blatt genau beschreiben.
Wenn er ein zuverlässiger und genauer Beobachter ist, werde ich ihm glauben.
Aber ich werde ihn auslachen, wenn er versucht mir zu erzählen, wie fehlerhaft jene 'Wissenschaftler' bei der Analyse ihrer Experimente vorgegangen seien, wie sinnlos ihre Schlußfolgerungen wären und wie leer ihre Theorien.

Wenn er aber dann auch noch versucht mir darzustellen, wie sinnlos und leer sogar die gesamte physikalische Erkenntnis und die Physik im Ganzen seien und wie einfach man doch alles mit den Begriffen und Bildern seiner Kindheit erklären könne, dann werde ich ihn mit mitleidigem Blick ansehen, mich höflich verabschieden und ihn schon nach wenigen Augenblicken vergessen haben, vertieft in das leidenschaftlich - ergründende Gespräch mit den Forschern, die ich über ihren Papieren und in ihren Gedanken antraf.

Simon Reinhard
Klaus Horsten
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Re: Mnemonik

Beitrag von Klaus Horsten »

Ulrich Voigt hat geschrieben:Unter Mnemonik verstehe ich die Theorie der Mnemotechnik.
Dieser Sprachgebrauch ist seltsam. Ich hätte getippt, dass es sich umgekehrt verhält:

Nicht:
Mnemonik = Theorie
Mnemotechnik = Praxis

Sondern:
Mnemonik = Praxis
Mnemotechnik = Theorie

Begründung:
Ich kenne die Wortbildungen vom Wortpaar "Rhetor - Rhetoriker" her.
Ein Rhetor, so habe ich gelernt (ich hoffe, mein Gedächtnis lässt mich nicht im Stich und ich habe es richtig verstanden), ist ein Redner. Demgemäß kann ich sagen: X ist ein guter Rhetor. X ist ein Naturtalent. Ein Schauspieler, hysterische Persönlichkeit von Kind an, versteht es, sich gekonnt in den Mittelpunkt der Gesellschaft zu stellen. Aber er ist kein Rhetoriker. Er weiß nichts von der Wissenschaft der Rhetorik, hat sie nicht begrifflich druchdrungen, nicht die alten Schriften der Rheotriker gelesen, kennt die Systematik nicht etc.

Rhetor = Praktiker der Redekunst
Rhetoriker = Theoretiker der Redekunst

Demgemäß kann jemand Rhetor und Rhetoriker sein, oder nur Rhetor allein. Ein Rhetor kann allmählich ein Rhetoriker werden ...

Ich hätte also per analogiam von Rhetor auf Mnemoniker und von Rhetoriker auf Mnemotechniker geschlossen, denn Rhetorik ist die die rhetorikè téchne - also ebenso téchne wie die Mnemo-technik téchne ist: téchne im Gegensatz zur natura, begriffliche Selbstreflexion im Gegensatz etwa zum Naturtalent.
78
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Beitrag von 78 »

Mnemonik verstehe ich die Theorie der Mnemotechnik. Der Mnemotechniker konstruiert Eselsbrücken...
Bei dem Versuch Theorie und Praxis zu trennen, hat sich das Modell der Eselsbrücke verselbstständigt: die Esel, die eine Brücke überqueren, die Arbeiter, die eine Brücke bauen und die Architekten, die mögliche Brückenkonstruktionen entwerfen. Nur so selbstständig wie es auf den ersten Blick erscheint, sind die Arbeiter [an echten Brücken] gar nicht tätig. Sie folgen den Anweisungen eines konkreten Planes, wie die Hilfsarbeiter in der Küche, die niemand mit einem Koch verwechselt. Ob es eine Unterscheidung gibt zwischen Köche, die Rezepte erfinden, und Köche, die Rezepte ausführen, ist mir unklar. Es fällt mir jedoch schwer, mir einen Koch vorzustellen, der Rezepte erfindet, aber nicht kochen kann.
78
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Beitrag von 78 »

Mir fällt es schwer, Mnemoniker ohne mnemotechnische Erfahrung ernstzunehmen, die sich in ihren Schriften über eine bloße, bescheidene Schilderung des Stoffes hinaus mit Ikarusfedern leicht ins Land der Beurteilung begeben...
gibt es eine gute Alternative, eine Art Lehrbuch der Mnemotechnik, die mehr als eine bescheidene Schilderung enthält?
Ulysses
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Beitrag von Ulysses »

Es gibt auf jeden Fall genügend Köche, die nicht kochen können, und noch mehr Gäste, die diesen Fraß anschließend goutieren, aber wie sagt man doch so schön: Chacon a son gout.
Klaus Horsten
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Beitrag von Klaus Horsten »

DaVinci hat geschrieben:Chacon
Chacun
Ulysses
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Beitrag von Ulysses »

peinlich, peinlich :oops:
An meinen Schreibkünsten muss ich ja noch kräftig arbeiten. :wink:
Pat
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Beitrag von Pat »

Dieser Sprachgebrauch ist seltsam. Ich hätte getippt, dass es sich umgekehrt verhält:

Nicht:
Mnemonik = Theorie
Mnemotechnik = Praxis

Sondern:
Mnemonik = Praxis
Mnemotechnik = Theorie

Rhetor = Praktiker der Redekunst
Rhetoriker = Theoretiker der Redekunst
Die obige Verwirrung resultiert daraus, daß sich das Wort 'Mnemotechnik'
nicht harmonisch in den Kanon der antiken Disziplinbezeichnungen einfügt.

Mnemonik ist gemeint im Sinne von:

Techne mnemonike = ars mnemonica

Das -ik ist, als Endung des dem Wort techne (Kunst, Wissenschaft) beigeodneten Adjektivs, die Disziplinbezeichnung.

Deshalb auch Rhetorik:

Techne rhetorike


Da es den Mnemon als Entsprechung zum Rhetor aus sprachlichen Gründen nicht gibt (Mnemon ist schon selbst ein Adjektiv, Rhetor aber die Kombination des Wortes für 'reden' mit der Tätigkeitsendung -tor), ergab sich in postantiker Zeit eine neue Bezeichnung für die praktische Anwendung. Nicht für Klarheit sorgt hier die moderne Verwendung des Wortes 'Technik' in einem anwendungs-, ziel- und rein praxisbezogenen Sinn als Technik, um etwas zu erreichen, als Kunstgriff statt als Kunst.

Das Wort Mnemonik ist also, anknüpfend an techne mnemonike und ars mnemonica, und im Einklang mit der Rhetorik als techne rhetorike, die
theoretische Grundlagenforschung.

Mir selbst ist es übrigens nur schwer vorstellbar, Mnemotechniker zu sein,
ohne auch in gleicher Intensität als Mnemoniker (Zumindest für die eigenen Bedürfnisse) zu wirken. Die intensive praktische Erfahrung will ja verallgemeinert werden, damit sie letztlich wieder neue, mächtigere Techniken produzieren kann. Diese werden wieder erprobt und ständig verfeinert, und so ergibt sich aus meiner Sicht eine geschlossene, sinngebende Harmonie.

Ein reiner Mnemotechniker wäre für mich mit einem Elementarphysiker vergleichbar, der die Ereignisse im Teilchenbeschleuniger zwar beobachtet und dokumentiert, sich aber nicht bemüht, daraus Schlüsse zu ziehen oder gar seine Experimente solchen Schlussfolgerungen anzupassen
(Sollte ich diesen Vergleich bereits einmal erwähnt haben, so bitte ich das zu verzeihen und sich nochmals mit ihm zu beschäftigen :) ).

Techne und Technik sind eben doch verwandt.

Simon

P.S.: Wer jetzt meint, Technik wäre die theoretische Betrachtung der Techne, weil sie auf -ik endet, der sollte Obiges noch einmal entspannt durchlesen. ;)
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Ulrich Voigt
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Mnemonik -Mnemotechnik

Beitrag von Ulrich Voigt »

Vielen Dank, Pat, für die gute Antwort auf die skeptische Frage, warum "Mnemotechnik = Praxis" und "Mnemonik = Theorie" und nicht vielmehr umgekehrt.

Der Grund für meine Entscheidung war der: Mnemotechnik ist ein modernes Kunstwort (19. Jh.) und bedeutet Anwendung und Ersinnen von "mnemonischen Mitteln", von Eselsbrücken. Technik ist hier ein modernes Wort und deutet unbedingt auf "Praxis".
Für das begriffliche oder philosophische Nachdenken über bereits fertig vorliegende Techniken gibt es eigentlich kein Wort und ich habe mir erlaubt, das Wort Mnemonik, das ja eigentlich ganz überflüssig in der Luft hängt, dafür zu nehmen.

Ich denke nicht, daß jeder Mnemotechniker auch noch auf einer Metaebene über das nachdenken muß, was er betreibt. Mnemonik ist andererseits ohne ein gewisses Maß an Praxis schwerlich erfolgreich.

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Ulrich Voigt
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Mnemonik + Mnemotechnik = Likanas

Beitrag von Ulrich Voigt »

Der Likanas Verlag nennt sich "Verlag für Mnemotechnik", wobei es sich verstehen soll, daß damit auch Mnemonik gemeint ist.

Die beiden Bücher, die ich unter dieser Überschrift bislang vertreibe, laufen beide in der Reihe Beiträge zur Mnemotechnik, obwohl Esels Welt eher eine mnemonische Arbeit ist und Das Jahr im Kopf eher eine mnemotechnische.

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Ulrich Voigt
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Likanas Beiträge zur Mnemotechnik

Beitrag von Ulrich Voigt »

Wenn man ein Wissensgebiet, das nicht ganz einfach ist, zum Zweck einer mnemotechnischen Verarbeitung desselben analysiert, so kann es passieren, daß dabei Strukturen hervortreten, die neu sind. Schließlich ist es nicht ungewöhnlich, daß aus einer neuen Perspektive heraus Neues wahrgenommen werden kann.
Ich habe dies erlebt sowohl bei der Mathematik der Kalender, wie auch bei der Chronologie der Kalender. Jetzt gedenke ich, daraus eine neue Reihe im Likanas Verlag anzugehen: Beiträge aus der Mnemotechnik. Die Arbeiten, die mir vorschweben, sind weder mnemotechnische, noch mnemonische Arbeiten, sondern mathematische oder historische (oder vielleicht auch linguistische). Sie haben aber irgendwo eine mnemotechnische Ecke, und sie sind ursprünglich ermöglicht durch einen entsprechenden Bezug.
Mit dieser zweiten Reihe versuche ich zu erweisen, daß Gedächtniskunst nicht nur dazu gut ist, sich irgendwas schnell und sicher zu merken, sondern auch dazu, Strukturen zu verstehen.

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Klaus Horsten
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Beitrag von Klaus Horsten »

Ich habe nun mein Altgriechisch-Lexikon kurz von meiner Tochter (7 Jahre) ausgeliehen - sie lernt die griechische Schrift (es ist so eine Art Geheimschrift für sie (ich bewundere sie dafür)) - und nachgelesen.
Simon hat geschrieben:Mnemonik ist gemeint im Sinne von: Techne mnemonike = ars mnemonica
Es gibt das Wort "mnemonikos". Der Eintrag in meinem Lexikon lautet dazu: "ein gutes Gedächtnis besitzend".

Da wird einfach das -os von mnemonikos weggelassen, und man behält mnemonik übrig. Ein Mnemoniker (Neubildung im Deutschen) ist wohl jemand, der ein gutes Gedächtnis hat. - So weit der altgriechische Befund.

Aber der ist nicht bindend. Wenn alle Welt mit "Technik" die Bedeutung "Praxis" verbindet, dann ist es allzu gerechtfertigt "Mnemotechnik" der Praxis zuzuschlagen.

Für mich sind Mnemonik und Mnemotechnik zuallererst Synonyme und miteinander austauschbar. Im Altgriechischen gibt es, so weit ich sehen kann, darin nicht den Unterschied "Theorie - Praxis".

By convention kann man nun die Dissoziation in die Synonyme einbringen von "Theorie" versus "Praxis" - so wie Du, Ulrich, es gemacht hast. Das ist vollkommen richtig und gerechtfertigt.

Wortbedeutungen sind nach de Saussure 1. arbiträr (=willkürlich) und 2. konventionell. Es fragt sich also, ob bei der inhaltlichen Schwierigkeit, Mnemotechnik überhaupt von der Theorie abzutrennen - wie sie oben in den Beiträgen zum Ausdruck gebracht worden ist -, sich dieser Unterschied halten kann.

Bindend und stark beeinflussend wird der Gebrauch nicht so sehr im Altgriechischen, sondern im Englischen sein. Kennst sich da jemand aus? Der deutsche Gebrauch wird sich nach dem englischen richten. Das vermute ich zumindest.

Was ich sehr bedauere ist, dass es im Deutschen keine Entsprechung zu "mnemonic" gibt. Da wird im Englischen sehr elegant gesagt (ich improvisiere):

Some Text ...
Mnemonic: Oyul sounds like "oil".

Da steht "Mnemonic" für "Eselsbrücke", was im Deutschen ein Notbehelf ist.
Klaus Horsten
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Re: Likanas Beiträge zur Mnemotechnik

Beitrag von Klaus Horsten »

Ulrich Voigt hat geschrieben:versuche ich zu erweisen, daß Gedächtniskunst nicht nur dazu gut ist, sich irgendwas schnell und sicher zu merken, sondern auch dazu, Strukturen zu verstehen.
Das ist sehr spannend und sehr interessant/wichtig!

Mnemonik wird so, wenn ich es recht verstehe, zu einem Teil der Heuristik. Die Frage der Heuristik ist: "Wie komme ich auf etwas drauf?". Die Heuristik ist in meinen Augen die "Kunst des Draufkommens" - also die Kunst, eigene Gedanken zu finden. Menmonik wird zu einer Hilfe in der Kunst des Draufkommens. Verstehe ich das richtig?
Pat
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Beitrag von Pat »

sondern auch dazu, Strukturen zu verstehen.
Genau dies ist ja der viel weitergehende Aspekt des Erinnerns:
Anhand des insgesamten Memorierens einer Struktur hat man sie sich nicht nur einverleibt, sondern man 'sieht' sie auch im Ganzen.

Statt als auf übliche Weise Lernender immer nur einen Teil des Gelesenen im Bewußtsein zu behalten und gleich dem Blinden mit dem Stock stets nur einen begrenzten Bereich des Stoffes erinnernd zu erfahren, ständig im Verblassen begriffen, ergreift man das zu Lernende, gibt ihm Form und verteilt es auf ein angemessenes und angenehmes Gebiet.

Man hat nicht nur den Stoff in seiner Gesamtheit im Blick, sondern man erkennt auch, ohne auf die 'Abzählreime' Lullscher Prägung angewiesen zu sein, bei gutem Licht und im rechten Moment durch bloße entspannte Betrachtung Verbindungen und neue sinngebende Beziehungen zwischen den einzelnen Einheiten.

Das Memorieren und Betrachten im Ganzen ist, wie bereits von Herrn Voigt gesagt, nur der erste Schritt der Mnemo(tech)nik.

Die neuen Erkenntnismöglichkeiten, die sich daraus ergeben, müssen der nächste Teil des Weges sein.
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Ulrich Voigt
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Beitrag von Ulrich Voigt »

Klaus Horsten hat geschrieben:"mnemonikos"
Es geht um Fachwörter und nicht um Umgangssprache. Bei Aristoteles finde ich mnemonike (zu ergänzen: techne) ganz im Sinne von Mnemotechnik, nämlich: Das Ersinnen oder Benutzen künstlicher Gedächtnismittel.
Aimé Paris, der sich das Wort Mnemotechnik ausgedacht hat, könnte sich an Aristoteles orientiert haben.
Daher stand für mich Mnemotechnik fest als sinnvolle Wortbildung, die überdies in Frankreich und Deutschland längst etabliert ist.
Die Engländer haben das nicht übernommen, sondern benutzen mnemonics. Daran kann ich sie natürlich nicht hindern. Wenn ich das aber in Esels Welt übernommen hätte, mich also dem Sprachgebrauch anpassend, so wäre mit Mnemonik = Mnemotechnik eine unnötige Verdoppelung entstanden. Nun gut, man könnte natürlich auch Synonyme zulassen, aber: -
ABER: Ich benötigte einen Begriff für die Metaebene. Aristoteles z.B. schreibt über Mnemotechnik, die er bereits fertig vorfindet. Er ist kein Mnemotechniker, sondern ein Philosoph, der Mnemotechnik aus irgendwelchen Gründen interessant findet.
Über fertig Vorhandenes nachdenklich zu reden, könnte man vielleicht als Philosophieren bezeichnen. Man hat nicht mehr das Gefühl, innerhalb der eigentlichen Technik zu sein. Es gibt daher auch (soweit mir bekannt ist) in keiner Sprache ein Wort für diese Metaebene.
Ich gedachte nun, den Teil dieser Metaebene, der für die Entwicklung von Mnemotechnik wichtig ist, also insbesondere die begriffliche Arbeit, aus dem unverbindlichen Zusammenhang der "Philosophie" herauszuziehen und unserer "Technik" als gewissermaßen theoretische Abteilung zuzuordnen.
Da kam mir das durch den Begriff Mnemotechnik überflüssig gewordene Wort Mnemonik wie gerufen.

Damit sollte deutlich sein, daß Esels Welt zu 100% eine mnemonische Arbeit darstellt, denn auch dort, wo ich (wie bei der Klumpenmethode oder der Klammermethode) eine neue Methode definiere, geht es doch nie wirklich darum, mnemotechnische Probleme zu lösen, sondern immer nur darum, über fertige Lösungen zu sprechen.

Kurz: Mir war (und ist) vollkommen bewußt, daß ich Mnemonik in einem neuen Sinne verwende. Ich habe ja nie einen Hehl daraus gemacht, daß ich versuche, der Mnemotechnik insgesamt einen neuen Impuls zu geben.
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Beitrag von Klaus Horsten »

Also mir ist durch die Diskussion jetzt schon sehr viel klarer geworden, wo der Unterschied zwischen den beiden Wörtern liegt.

Herzlichen Dank für den Hinweis auf das Englische. Durch ihn ist mir aufgefallen, dass es im Englischen kein "mnemotechnics" gibt.

Eine mnemonische Diskussion.
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Ulrich Voigt
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Re: Likanas Beiträge zur Mnemotechnik

Beitrag von Ulrich Voigt »

Klaus Horsten hat geschrieben:Verstehe ich das richtig?
Die Frage kann ich auch selbst stellen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich mir nicht vielleicht etwas vormache.
Der Gedanke einer heuristischen Relevanz von Mnemotechnik ist zwar nicht ganz neu, aber (soweit ich sehe) entweder nur per analogiam (wie bei Dommerich) oder per hallucinationem (wie bei Giordano Bruno). Bei mir sind die Erkenntnisse nicht phantasiert oder projektiert, sondern konkret vorhanden. Ich bewege mich auf vollkommen festem Boden.
Jedenfalls gehe ich von meinen eigenen Erfahrungen aus:
Da mich die mnemotechnische Beschäftigung mit dem Kalendermaterial auf interessante Erkenntnisse hinsichtlich seiner Mathematik und seiner Geschichte gestoßen hat, erscheint es mir sinnvoll, von „Beiträgen aus der Mnemotechnik“ zu sprechen. Diese Beiträge sind natürlich selbst überhaupt nicht mnemotechnisch oder auch nur im weitesten Sinne irgendwie mnemonisch.
Was ich eigentlich demonstrieren will: Daß der Versuch, ein Gebiet mental zu beherrschen, unter Umständen von sachlicher Bedeutung sein kann.

Außerdem muß ich es ja irgendwie rechtfertigen, wenn ich eine historische oder eine mathematische Arbeit in einem Verlag für Mnemotechnik veröffentliche.

U.V.
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Fluch der Ordnung

Beitrag von Klaus Horsten »

Angenommen für jeden Wissenschaftszweig gäbe es einen eigenen Verlag:
- China -> Sinologischer Verlag
- Chemie -> Verlag für Chemie
- Geschichte -> Verlag für Historie
- Mnemotechnik -> Likanas

und angenommen, man wolle, dass Ordnung herrsche

dann

dürfte ein chemisches Buch nur in dem Verlag für Chemie, ein sinologisches Werk nur in einem Sinologischen Verlag, ein Werk über Mnemotechnik nicht in einem historischen Verlag ... erscheinen.

Da aber die Einteilungskategorien immer den Mangel an sich haben, dass sie einseitig eine Seite hervorheben, um später in den Konflikt zu geraten, andere ebenfalls wesentliche Seiten berücksichtigen zu müssen, die nun nicht in die eine Kategorie passen, sondern einer anderen Kategorie zugehören, kann ein Werk mit Fug und Recht ebensowohl in dem einen wie auch in dem anderen Verlag veröffentlicht werden, sofern es nur den einen oder anderen wesentlichen Aspekt an sich hat.

Zu Heuristik:
Ich kenne nur ein einziges Werk, das über mehrere 100 Seiten die Erfindungskunst/Heuristik/inventio behandelt:
Es ist die Wissenschaftslehre von Berhard Bolzano (Faksimile-Ausgabe Scientia Verlag Aalen, Hg. Wolfgang Schultz, 1981).
In Band 3 gibt es den Vierten Teil, die "Erfindungskunst", und geht über 250 Seiten.

Vielleicht kann das einen Beitrag zur Klärung der Frage leisten.

(In § 284 findet sich übrigens eine Mnemonik - da werden die Gesetze des Rückerinners, die aufgezählt werden, unter dem einen "Gesetz der Erweckung gleichzeitiger Vorstellungen" zusammen gefasst).

[P.S. Bolzano ist übrigens der Geheimschlüssel zu Karl Popper]
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