Giordano Bruno: Ars memoriae

Hierein gehört alles was die Geschichte und Methoden der Mnemotechnik betrifft. Z.B. Was ist die Geschichtenmethode? Was sind Routen? Des Weiteren geht es auch um die historische Betrachtung und Analyse der Mnemotechnik.


Moderatoren: Hannes, Boris

Antworten
Pat
Superbrain
Beiträge: 780
Registriert: Mo 04. Apr 2005, 14:36

Giordano Bruno: Ars memoriae

Beitrag von Pat »

Gibt es eigentlich hiervon eine Übersetzung in irgendeine Sprache?

Bruno wird ja immer für sein Gedächtnissystem gefeiert, obwohl keiner genau zu wissen scheint, wie es eigentlich funktionierte.

Die These, daß es ihm mehr um Magie als um Mnemonik ging, glaube ich nicht.

Bruno war kein Narr, er muß erkannt haben, welche Möglichkeiten in mnemonischen Systemen stecken.
Zudem war er von Natur aus Wissenschaftler und Entwickler logischer Weltsysteme. Ich halte es für nicht wahrscheinlich, daß er nicht auch mnemotechnische 'Funktionen' genauer erforscht und verbessert haben sollte.
Man kennt ja einige Bilder von ihm, den gegeneinander verschiebbaren Kreis und so weiter. Er erinnert mich an das mir auch nur vom Hörensagen bekannte System des Metrodorus. Hat Bruno die Anordnungen des Kreises benutzt, um schnell zahllose sinnhafte räumliche Kombinationen zu erhalten, die ihm Orte gaben?

Wer weiß in dieser Angelegenheit mehr?

Simon
Pat
Superbrain
Beiträge: 780
Registriert: Mo 04. Apr 2005, 14:36

Beitrag von Pat »

Keiner? Na, kein Wunder. Es gibt wahrscheinlich nur eine Handvoll Leute auf der Welt, die hierzu Profundes beitragen könnten.

Vielleicht kehren ja Herr Voigt und Klaus Horsten irgendwann wieder zurück.

Simon

P. S.: Ich versuche gerade, mich durch die lateinische Version von Ars memoriae zu 'wühlen'. Ich werde mich da wohl hineinvertiefen müssen, sonst
bleibt mir beim Lesen nur die 'umbra idearum'.
Martin
Stammgast
Beiträge: 74
Registriert: Mo 04. Apr 2005, 20:48

Beitrag von Martin »

Du weißt ja selbst, dass die Hinwendung zur Mnemonikhistorie nicht unbedingt die Stärke dieses Boards ist. Ohne Dr. Voigt oder Klaus Horsten vorgreifen zu wollen, kann ich bzgl. Bruno (fast hätte ich Buno geschrieben, aber der ist ja eine andere Koryphäe) nur auf die Einschätzung von Frances Yates und Dr. Voigt verweisen: Eine astralmagisch-mystische Ordnung ähnlich der von Giulio Camillo. Da mich Astronomie und/oder Astrologie nicht wirklich reizen und die diversen "Siegel" etc., die Gegenstand Brunos Ausführungen sind, wahrscheinlich nur unter Anleitung (selbige ist natürlich nicht mehr zu erhalten, da der Protagonist und etwaige Schüler längstens das Zeitliche gesegnet haben) "aufzubrechen" sind, hege ich gewisse Zweifel, ob der Aufwand wirklich lohnt. Trotzdem, lieber Simon, lasse ich mich gerne eines besseren belehren; "die Betonung liegt hier auf gerne."
Was die Sache mit dem Kreis anbelangt oder besser die gegeneinander verdrehbaren Scheiben, auch rotae genannt, so finden sich selbige zuerst bei Raimundus Lullus im 12. Jahrhundert. Bruno wie auch Camillo versuchten, die Innovationen von Lullus mit den klassischen Techniken (Loci etc.) in eine harmonische Gesamtkonzeption zu bringen und somit den "mnemotechnischen Wirkungsgrad" zu steigern. Ob dies tatsächlich gelungen ist, scheint allerdings nie klar untersucht worden zu sein. Vielleicht auch aufgrund der bewußten Geheimniskrämerei, die Bruno nicht zuletzt aus geschäftstaktischen Überlegungen heraus an den Tag legte...

Eines wundert mich allerdings: Du warst doch bis dato immer überzeugt, dass das Mittelalter die eigentliche mnemotechnische Fundgrube bildet. Ist diese Auffassung nun mit der Hinwendung zur Renaissance ad acta gelegt? Oder rechnest Du Bruno als ehemaligen Dominikanermönch noch eher zum Mittelalter denn zur Renaissance?

Übrigens, glaube ich, wäre dieses Thema im Forum "Anwendungen, Geschichte und Methoden der Mnemotechnik" wesentlich besser aufgehoben als hier beim Gedächtnissport. Nur selten klicke ich zum Beispiel den Gedächtnissportbereich an und eventuell tun es einige andere ebenso, sodass eine Antwort dann auf sich warten lässt.

Es grüßt Dich, Martin.
Zuletzt geändert von Martin am Fr 04. Aug 2006, 23:46, insgesamt 3-mal geändert.
Benutzeravatar
Boris
Administrator
Beiträge: 1746
Registriert: Mo 31. Mär 2003, 9:33
Wohnort: Kranenburg
Kontaktdaten:

Beitrag von Boris »

Den Hinweis das Thema zu Verschieben nehme ich gerne auf.
Ich habe in England eine englische Übersetzung zumindest Teile von Brunos Arbeiten zum Thema Gedächtnis in der Bib mal durchgeblättert gehabt. Hatte dann aber genug damit zu tun seine Sachen zu physikalischen Themen zu bearbeiten. Insgesamt habe ich nicht den Eindruck das Bruno sich dem mythischen allzu sehr zugewendet hat (also natürlich schon, aber nicht mehr als alle in der Zeit).


Bei Wikipedia steht, dass Bruno sich gern als "Künstler" gegeben hat um mit Gedächtnisvorführungen gegen gute Bezahlung zu geben. Als er bei einem Monarchen eingestellt wurde um diesen in die Gedächtnistechniken einzuweihen, soll dieser so enttäuscht gewesen sein, dass er nicht in magische Welten sondern nur in einfache Mnemotechniken die auch wir alle kennen eingeweiht wurde, dass er ihn dann der Inquisition ausgeliefert hat.

Aber dazu können andere vielleicht mehr schreiben.
Pat
Superbrain
Beiträge: 780
Registriert: Mo 04. Apr 2005, 14:36

Beitrag von Pat »

Vielen Dank für die Verschiebung, der Beitrag passt thematisch natürlich zu 'Anwendung und Geschichte'.


Zu Martin:
Du weißt ja selbst, dass die Hinwendung zur Mnemonikhistorie nicht unbedingt die Stärke dieses Boards ist.
Vielleicht wird sich das ja mit unserer Hilfe ändern.
Ohne Dr. Voigt oder Klaus Horsten vorgreifen zu wollen, kann ich bzgl. Bruno (fast hätte ich Buno geschrieben, aber der ist ja eine andere Koryphäe) nur auf die Einschätzung von Frances Yates und Dr. Voigt verweisen: Eine astralmagisch-mystische Ordnung ähnlich der von Giulio Camillo.
Ich bin mit der Zeit zur Überzeugung gelangt, daß man Yates in Bezug auf eine Beurteilung der Güte mnemotechnischer Systeme in keiner Weise vertrauen kann. Sie hat nie Gedächtnistechniken angewandt, war somit eher eine Art Besucherin in der mnemonischen Welt, die sie nur aus Neugier an okkult-magischen Praktiken zu durchstreifen schien.
Da mich Astronomie und/oder Astrologie nicht wirklich reizen und die diversen "Siegel" etc., die Gegenstand Brunos Ausführungen sind, wahrscheinlich nur unter Anleitung (selbige ist natürlich nicht mehr zu erhalten, da der Protagonist und etwaige Schüler längstens das Zeitliche gesegnet haben) "aufzubrechen" sind, hege ich gewisse Zweifel, ob der Aufwand wirklich lohnt.
Nun ja, Astronomie in Verbindung mit Astrophysik kann meiner Meinung nach sehr interessant sein, aber auf Sterndeutereien magischer Natur kann man (Horoskopleser, seht es mir nach :) ) eher verzichten.
Trotzdem, lieber Simon, lasse ich mich gerne eines besseren belehren; "die Betonung liegt hier auf gerne."
Gerne werde ich es versuchen :).
Was die Sache mit dem Kreis anbelangt oder besser die gegeneinander verdrehbaren Scheiben, auch rotae genannt, so finden sich selbige zuerst bei Raimundus Lullus im 12. Jahrhundert. Bruno wie auch Camillo versuchten, die Innovationen von Lullus mit den klassischen Techniken (Loci etc.) in eine harmonische Gesamtkonzeption zu bringen und somit den "mnemotechnischen Wirkungsgrad" zu steigern. Ob dies tatsächlich gelungen ist, scheint allerdings nie klar untersucht worden zu sein.
Die kombinatorische Methode des Lullus berühmte sich ja, Erkenntnis- und Gedächtnissystem in einem zu sein. Kennt sich eigentlich jemand hiermit genauer aus? Es gibt es Seite, auf der man die Ars Magna und Weiteres von Lull in Softwareform herunterladen kann. Die Ersteller der Seite (www.lullianarts.net) scheinen von dem Wert der Methode in hohem Maße überzeugt zu sein, wobei ich zugeben muss, dass sich mir bis jetzt weder Sinn noch Anwendung klar erschlossen haben. Wie gesagt: Wer weiß mehr?
Vielleicht auch aufgrund der bewußten Geheimniskrämerei, die Bruno nicht zuletzt aus geschäftstaktischen Überlegungen heraus an den Tag legte...
Hierbei wundert mich das Folgende: Wie Schenckel (Dessen Ars memoriae von 1610 ich vor kurzem in der deutschen Übersetzung [Compendium von 1810] gelesen habe: Nicht wirklich Neues, aber zumindest der Anspruch, Reden hörend erinnern zu können, einer meiner zuvor genannten 'Prüfsteine der Mnemotechnik') und die Dominikaner vor Bruno hat Bruno selbst ja auch ausgewähltem Publikum Gedächtnisvorführungen gegeben, die in vollem Umfang überzeugt zu haben scheinen. Als Anwender der bekannten 'Rumpftechniken' frage ich mich hier immer: Wie gut waren diese Vorführungen, würde mich das beeindrucken, würde das uns beeindrucken (Dasselbe gilt für heutige Vorführungen, Lorrayne etc...: Wenn sich dieser wirklich die Namen und den Sitzplatz von 500 Personen merken konnte, dann will ich wissen: Wieviel Zeit hatte er, was waren die Rahmenbedingungen? Sollten behauptet werden, dass sich diese Personen ihm nur einmal kurz vorgestellt haben, dann wäre das dermaßen beeindrucken, dass ich die Wahrheit dieser Vorbereitung anzweifeln würde. [Ich selbst schaffe, mit mehrmaliger Wiederholung, 25 Personen in ca. 3-4 Minuten. Bei einmaliger Vorstellung wären bereits 25 wohl recht schwierig.] Wäre Herrn Lorrayne aber ein Plan der beschrifteten Sitzreihen vorgelegt worden, dann hielte ich seine Vorführung selbst bei 500 Personen für absolut nachvollziehbar und nicht wirklich beeindruckend.) ? Hier habe ich noch zu wenig Informationen (Gibt es diese überhaupt? Wenn die Vorführungen wirklich derart beeindruckend waren, muss sie doch irgendein Höfling, irgendein Bürger nach außen kolportiert haben.

Zumindest das Ergebnis der Vorführungen sollte doch nicht geheim gewesen sein, dies wäre ja die beste Werbung für die fahrenden Gedächtnishändler Schenckel und Sommer gewesen.
Eines wundert mich allerdings: Du warst doch bis dato immer überzeugt, dass das Mittelalter die eigentliche mnemotechnische Fundgrube bildet. Ist diese Auffassung nun mit der Hinwendung zur Renaissance ad acta gelegt? Oder rechnest Du Bruno als ehemaligen Dominikanermönch noch eher zum Mittelalter denn zur Renaissance?
Es besteht nicht unbedingt eine Festlegung auf eine bestimmte Epoche. Trotz der ständigen Rezeption alter Autoren, die 'nur' Grundlegendes angaben, gab es ja in verschiedenen Zeitabschnitten Personen, die an einer Weiterentwicklung interessiert waren.
Bekannt ist, dass es im Dominikanerorden eine lange mnemonische Tradition gab. Diese Leute arbeiteten ein ganzes Leben lang intensiv mit den Techniken, die wir nur oberflächlich kennen.
Bruno als Dominikaner wäre bei einer Einordnung wohl eher zu dieser Tradition zu rechnen. Die Frage ist ja: Ist ihm eine verbessernde Veränderung geglückt oder war das System der Dominikaner schon in sich perfektioniert? Man muss bedenken: In den dominikanischen Klöstern
waren die gebildeten Geister der Zeit angesiedelt, sie sahen das Gedächtnissystem als Grundpfeiler ihrer Bildung und religiösen Hinwendung an.
Da es nun in jeder Kunst so ist, dass man die wahren Tiefen und Feinheiten, die kleinen Nuancen, die große Wirkungen zeitigen können, erst mit der Zeit entdeckt, und man mithilfe eines kundigen Lehrmeisters diese Feinheiten ungleich schneller meistert als auf den einsamen Weg, frage ich mich:
Wie wertvoll wären auch nur kurze Schilderungen, die in einigen Bereichen effektiv modifizierend auf das uns Bekannte einwirken, für uns alle?
Deswegen liegt mein Interesse nicht in einer bestimmten Zeit, sondern in der Fähigkeit und Tradition, die die Zeit durchzieht, also in den Ausübenden dieser Kunst, die ihre Fähigkeiten öffentlich demonstrierten.
Deswegen interessiert es mich auch derart, welche exakten Leistungen damals erreicht wurden: Ist wesentlich mehr als heute jeder zu bewältigen können glaubt, dann ist der Unterschied entweder methodentechnisch begründet oder liegt in der größeren Erfahrung und längeren Übung.

Welche Anknüpfung außer dem genauen Eingehen auf neueste Erkenntnisse der Hirnforschung und das intensive introspektive Erörtern der eigenen Erfahrung während des Memorierens haben wir sonst als den Blick auf die, die als Meister aus alter Zeit gelten?

Was waren sie wert?
Es grüßt Dich, Martin.
Einen herzlichen Gruß zurück.

Simon


Zu Boris:
Ich habe in England eine englische Übersetzung zumindest Teile von Brunos Arbeiten zum Thema Gedächtnis in der Bib mal durchgeblättert gehabt. Hatte dann aber genug damit zu tun seine Sachen zu physikalischen Themen zu bearbeiten. Insgesamt habe ich nicht den Eindruck das Bruno sich dem mythischen allzu sehr zugewendet hat (also natürlich schon, aber nicht mehr als alle in der Zeit).
Sehr interessant. Es schien aber wohl in der Kürze nicht viel zu entnehmen gewesen sein.

Zum letzten Satz: Ein wenig mystisch war Bruno gewiß, es ging ihm auch um Erkenntnis in Verbindung mit Macht und Magie.
Bei Wikipedia steht, dass Bruno sich gern als "Künstler" gegeben hat um mit Gedächtnisvorführungen gegen gute Bezahlung zu geben.
Wie oben gesagt: Nähere Schilderungen hierzu sollte es doch geben.
Als er bei einem Monarchen eingestellt wurde um diesen in die Gedächtnistechniken einzuweihen, soll dieser so enttäuscht gewesen sein, dass er nicht in magische Welten sondern nur in einfache Mnemotechniken die auch wir alle kennen eingeweiht wurde, dass er ihn dann der Inquisition ausgeliefert hat.
Es war ein italienischer Adliger, der von ihm wohl wirklich Magie lernen wollte, und dann sehr enttäuscht über sein, zumindest hiergegen, eher rationales Gedächtnissystem, Bruno der Inquisition auslieferte.
Man kann sich den Mann geradezu vorstellen, wie er dekadent, mit goldenen Ringen an den Fingern, nach Zauberei giert und dann nur Wissenschaft erhält. Welch eine Enttäuschung für den reichen Kleingeist :) !

Bist Du schon wieder hier, Boris?

Jedenfalls einen schönen Abend, jetzt mußt Du ja ein ziemlicher Englisch-Crack geworden sein (Warst Du wahrscheinlich schon vorher :) ).

Machs gut,

Simon
Benutzeravatar
ostfriese
Stammgast
Beiträge: 59
Registriert: So 25. Jul 2004, 12:07
Wohnort: Eisenach
Kontaktdaten:

Beitrag von ostfriese »

Find ich ja spannend, womit ihr euch hier beschäftigt.

Ein ahnungsloser Gedanke dazu, frei von irgendwelchen Kenntnissen:

Wenn z.B. die Dominikaner die Gedächtniskunst quasi professionell betrieben, dann wird das eine Fortentwicklung und Reifung ihrer Methoden natürlich beflügelt haben. Gleichzeitig ist dann aber nicht zu erwarten, dass sie mit ihren Trainingsmethoden hausieren gingen (man ziehe nur mal den Vergleich zum heutigen Profi-Sport). Und wäre es nicht geradezu paradox, wenn jemand, der die Kapazität des menschlichen Gedächtnisses hochhält, darüber penible schriftliche Aufzeichnungen führte? Also ist es durchaus wahrscheinlich, dass die damaligen Methoden zusammen mit dem professionellen "Geschäft" historisch versunken sind. Was nichts darüber aussagen würde, ob sie heutigen Methoden ähnlich, über- oder unterlegen waren.

Ohne euren Forschungsdrang bremsen zu wollen, aber ich vermute aus oben genannten Gründen, dass die meisten der Informationen, die ihr sucht, im Dunkel der Geschichte liegen und für immer verloren sind.
Martin
Stammgast
Beiträge: 74
Registriert: Mo 04. Apr 2005, 20:48

Beitrag von Martin »

Pat hat geschrieben:Ich bin mit der Zeit zur Überzeugung gelangt, daß man Yates in Bezug auf eine Beurteilung der Güte mnemotechnischer Systeme in keiner Weise vertrauen kann. Sie hat nie Gedächtnistechniken angewandt, war somit eher eine Art Besucherin in der mnemonischen Welt, die sie nur aus Neugier an okkult-magischen Praktiken zu durchstreifen schien.
Frances Yates hatte ich angeführt, weil sie einen Einblick in Brunos Mnemotechnik liefert, den ich in keiner weiteren Sekundärliteratur auch nur im Ansatz derart vorgefunden habe. Die kritische Argumentation bzgl. Yates, die immer wieder ins Feld geführt wird und auch oben von Dir beschrieben ist, teile ich aber ansonsten uneingeschränkt. Nichtsdestotrotz erscheint mir ihr „Art of memory“ Pflichtlektüre für alle historisch interessierten, kritischen Mnemotechnikanhänger zu sein. Das eigentliche Schwergewicht in meinem zitierten Satz ist doch aber gewiss Dr. Voigt, dessen Beurteilung ich nicht so ohne weiteres abtun kann bzw. möchte. Drei Anmerkungen Voigts in seinem Buch „Esels Welt“ zu Bruno seien hier angeführt:
Bruno „repräsentiert mystische Mnemotechnik“, „verlor sich in extremer Tableau-Mnemonik“ und „blieb aus gutem Grunde ohne Einfluß“. Das soll Dich nun aber selbstverständlich nicht davon abhalten, eigene Untersuchungen anzustellen; bewahrt Dich aber vielleicht ein Stück weit vor zu hohen Erwartungen und großer Ernüchterung.

Die kombinatorische Methode des Lullus berühmte sich ja, Erkenntnis- und Gedächtnissystem in einem zu sein. Kennt sich eigentlich jemand hiermit genauer aus?
Auch Brunos Ansatz war nicht ausschließlich mnemotechnischer Natur, sondern u.a. durch Lullsche Elemente ebenso auf Erkenntnisgewinn ausgelegt. Mancher sah/sieht sogar Ansätze einer neuen Religionsrichtung in seinem System.
Was Lullsche Leitern und Rotae anbelangt, verweise ich ganz profan auf Vera F. Birkenbihl, die beide Mittel als Kreativwerkzeuge ihrer Leserschaft nahelegt. Man soll hierdurch sog. Bisoziationen (nach Gütler quasi „neue Gedankenverbindungen“) erzeugen können im Gegensatz zu den bekannten Assoziationen, die dann als „alte Gedankenverbindungen“ zu titulieren sind. Nur Bisoziationen lassen wirklich Neues erscheinen, was dann als innovativ bzw. kreativ in Bezug auf den "Erzeuger" in der Alltagssprache bezeichnet wird. Das Ganze läuft also auf die bekannte Erkenntnis da Vincis hinaus: Gebe einem Menschen zwei Begriffe/Ideen und genügend Zeit, so wird er eine Verbindung finden.

Wie gut waren diese Vorführungen, würde mich das beeindrucken, würde das uns beeindrucken...
Stichwort Vorführungen. Du nennst alles Wesentliche hierzu, lediglich die „objektive“ Beantwortung der gestellten Fragen ist eben das eigentliche Manko, zumindest was die „Stars“ aus den früheren Jahrhunderten betrifft. Letztlich ist es aber auch der Reiz und das Spannende, was die Lektüre alter Texte diesbezüglich zu offenbaren hat und so verstehe ich Deine Motivation, die auch die meine ist.
Welche Anknüpfung außer dem genauen Eingehen auf neueste Erkenntnisse der Hirnforschung und das intensive introspektive Erörtern der eigenen Erfahrung während des Memorierens haben wir sonst als den Blick auf die, die als Meister aus alter Zeit gelten?
In der Tat "gut gebrüllt, Löwe", um es salopp zu formulieren. Das ist die Forschungsgrundlage, wenn man so will.

Martin
Martin
Stammgast
Beiträge: 74
Registriert: Mo 04. Apr 2005, 20:48

Beitrag von Martin »

ostfriese hat geschrieben:Gleichzeitig ist dann aber nicht zu erwarten, dass sie mit ihren Trainingsmethoden hausieren gingen (man ziehe nur mal den Vergleich zum heutigen Profi-Sport).
Der Schluss liegt nahe, aber "undichte" Stellen z.B. bewirken oft größere "Offenbarungen" als man so gemeinhin glauben möchte. Andererseits: So abgeriegelt wie man vermuten könnte, war ja das Mönchtum nun auch wieder nicht; sicher spielt hier auch die Art des jeweiligen Ordens eine nicht unerhebliche Rolle. Man halte sich nur einmal die jesuitische Offenheit zumindest in Bildungsfragen vor Augen, die von Geheimniskrämerei weit entfernt ist und war.
Und wäre es nicht geradezu paradox, wenn jemand, der die Kapazität des menschlichen Gedächtnisses hochhält, darüber penible schriftliche Aufzeichnungen führte?
Angesichts der wachsenden Bedeutung des Schrifttums und des damit verbundenen Bedeutungsverlustes der mündlichen Überlieferung scheint mir das nicht mehr gar so paradox (nach dem Motto: "Doppelt gemoppelt hält besser!"). Per se allerdings hast Du mit dem Paradoxon-Aspekt natürlich recht.
Also ist es durchaus wahrscheinlich, dass die damaligen Methoden zusammen mit dem professionellen "Geschäft" historisch versunken sind. Was nichts darüber aussagen würde, ob sie heutigen Methoden ähnlich, über- oder unterlegen waren.
Die Wahrscheinlichkeit besteht selbstredend. Gerade in Anbetracht der Frage, wie präzise die Beschreibungen der einzelnen Autoren letztlich sind, muss der Verlust gewisser mnemotechnischer Fortschrittselemente, wenn nicht sogar ganzer Systemfortschreibungen, einkalkuliert werden. Vom qualitativen Vergleich mit heutigen Methoden ganz zu schweigen...
Benutzeravatar
Ulrich Voigt
Superbrain
Beiträge: 837
Registriert: Mo 21. Apr 2003, 15:35
Kontaktdaten:

Giordano Bruno

Beitrag von Ulrich Voigt »

Mnemotechnik der Dominikaner.
Die Dominikaner zielten nicht darauf ab, durch spektakuläre akrobatische oder sportliche Geistesleistung zu beeindrucken, sondern waren darauf aus, wichtige Inhalte effektiv zu lernen. Esels Welt macht daher einen Unterschied zwischen Mnemotechnik und Lerntechnik. Am Anfang der dominikanischen Tradition steht THOMAS VON AQUIN mit seinen vier Regeln zum effektiven Lernen. Mnemotechnik ist dabei berücksichtigt und irgendwie integriert, auf keinen Fall aber Selbstzweck. Das vor allem sollte man als selbstverständlichen Hintergrund nehmen, wenn man von "der Mnemotechnik der Dominikaner" handelt. In diesen Zusammenhang gehört dann auch Matteo Ricci, obwohl er kein Dominikaner war. Die vier Regeln des Thomas von Aquin waren zu seiner Zeit längst Allgemeingut geworden.
Bruno fällt aus dem Rahmen; die Mnemotechniker des 17. Jahrhunderts wollten aus gutem Grunde mit ihm nichts zu schaffen haben. Andererseits führt von Bruno ein gerader Weg zu Hegel. Das kann man alles in Esels Welt nachlesen

U.V.
www.likanas.de
Benutzeravatar
Ulrich Voigt
Superbrain
Beiträge: 837
Registriert: Mo 21. Apr 2003, 15:35
Kontaktdaten:

Giordano Bruno

Beitrag von Ulrich Voigt »

Frances Yates
Das Handicap dieser bedeutenden Forscherin lag nicht einmal so sehr darin, daß sie keine praktische Erfahrung von Mnemotechnik hatte, sondern darin, daß sie ursprünglich aus der Giordano-Bruno-Forschung herkam. Sie war daher der Ansicht, Bruno repräsentiere den Höhepunkt der Mnemotechnik überhaupt, eine Ansicht, die zu Folge hatte, daß Yates gelegentlich Rückschritt mit Fortschritt verwechselte und Fortschritt mit Rückschritt, kurz, daß sie in ihren Bewertungsmaßstäben schief lag. Daß nun Yates die historische Forschung so nachhaltig geprägt hat, bedeutet (leider), daß sich diese Schieflage auf eine Generation von Forschern vererbte. Nicht zufällig beginnt daher Esels Welt mit einem Kapitel Maßstäbe, um nämlich dieser bedauerlichen Entwicklung Einhalt zu gebieten.

U.V.
www.likanas.de
Klaus Horsten
Superbrain
Beiträge: 686
Registriert: So 12. Feb 2006, 16:39
Wohnort: Wien
Kontaktdaten:

Dominikaner

Beitrag von Klaus Horsten »

Ulrich Voigt hat geschrieben: Am Anfang der dominikanischen Tradition steht THOMAS VON AQUIN mit seinen vier Regeln zum effektiven Lernen.
Zu finden in der 49. Untersuchung "Die das Ganze ausmachenden Teile der Klugheit" mit der Frage "Ist das Gedächntnis ein Teil der Klugheit?"

Ich habe mir das durchgelesen. Eine Seite ungefähr. Das ist so kurz. Man muss schon wissen, wie es geht. Daraus lässt sich keine praktische Mnemotechnik machen. Thomas mag am Anfang der dominikanischen Tradition stehen - aber wer hat sie ausgearbeitet?
Benutzeravatar
Ulrich Voigt
Superbrain
Beiträge: 837
Registriert: Mo 21. Apr 2003, 15:35
Kontaktdaten:

Re: Dominikaner

Beitrag von Ulrich Voigt »

Klaus Horsten: Das ist so kurz.
Ja, und wunderbar durchdacht. Geeignet für Meditation. Eine Grundlage für Vieles.
Daraus lässt sich keine praktische Mnemotechnik machen.
Und warum nicht? Man muss nur lange genug und hingebungsvoll genug über Die vier Regeln nachdenken, dann werden sie lebendig und ermöglichen demjenigen, der das vor hat, eine lebendige Mnemotechnik zu entwickeln. Ich gehe davon aus, dass alle Mnemotechnik der Dominikaner hier ihren gemeinsamen Kern hat.
Im übrigen meine ich nicht, dass Thomas Mnemotechnik im Auge hatte, jedenfalls nicht in dem heute üblichen Sinne. In Esels Welt behandle ich Die vier Regeln daher unter der Überschrift LERNTECHNIK.

U.V.
www.likanas.de
Klaus Horsten
Superbrain
Beiträge: 686
Registriert: So 12. Feb 2006, 16:39
Wohnort: Wien
Kontaktdaten:

Re: Dominikaner

Beitrag von Klaus Horsten »

Ulrich Voigt hat geschrieben:Meditation
Unsere Zeit ist sehr gegen Meditation - fast keiner kann es mehr.
Ich wohl auch nicht.
Stets ist Hast da, Zeitdruck, Lärm, Forderung.
Keine guten Voraussetzungen für die Thomas-Rezeption.

Wenn Meditation über Thomas, dann lateinisch! In einem synoptischen Text aus Latein-Deutsch. Kennt jemand einen solchen, seine Summe in lateinisch-deutscher Ausgabe?

Ich hatte einmal einen Text über Thomas gelesen, auf Amerikanisch, der brachte und zitierte ständig seine lateinischen Begriffe. Ich war beeindruckt. Thomas' Denken steht vielfach noch über unserem. Herrliche Scholastik! Man versteht, weshalb sich die wissenschaftlichen Termini aus den lateinischen ableiten mussten - zum Teil ohne ihr hohes Niveau zu erreichen. Würden manche noch Latein sprechen, so würde ich allein aufgrund dieser Erfahrung mit Thomas Lateinisch mitzureden versuchen.

Die zweite Regel lautet: "Zweitens braucht es, dass der Mensch mit seiner Bedenkung ordentlich in einer Reihe aufbereitet, was er im Gedächtnis behalten will, damit er leicht von dem einen, woran er sich erinnert, zum anderen fortschreitet".

Das ist für mich zentral und der Knackpunkt.

Was heißt das?

Wir Heutigen würden sofort "Route" sagen. Voreilig, aber nicht falsch.

Es könnte aber, wahrscheinlicher, Tableau heißen, der Tisch von Simonides, der in Cicero beschrieben wird.

Wenn es Tableau bedeutet, wie kommt man dann von einem Ort zum anderen?

Wie ordnet man die Orte am besten, damit einer zum anderen hinüberleitet?

Und was sind diese Orte? Nur Orte oder vielmehr Orte mit je einem Ding?
Wieviele Gedächntnisinhalte kann solch ein Ort aufnehmen?
Nur einen oder sehr viele verschiedene?

Wenn Hegel vom Tableauismus - der Betonung der Geometrie der Orte - von Bruno wegführt oder sogar befreit, dann will ich wieder in die gegenteilige Richtung zurück, und kann mich damit auf die starke Autorität von Thomas berufen.
Benutzeravatar
Ulrich Voigt
Superbrain
Beiträge: 837
Registriert: Mo 21. Apr 2003, 15:35
Kontaktdaten:

Dominikaner

Beitrag von Ulrich Voigt »

Klaus Horsten: Unsere Zeit ist sehr gegen Meditation - fast keiner kann es mehr.
Wie könnte man da wohl widersprechen! Jede Zeit war sehr gegen Meditation!! Jede Zeit ist sehr gegen Meditation. Nein, die Zeit selbst steht gegen die Meditation.

Bevor ich über solch einen Text versuchsweise meditiere, analysiere ich seine "Quellen". Ich lese also den Aristoteles-Kommentar, den Thomas geschrieben hat und frage mich, wie die vier Regeln mit dem zusammenhängen, was ich dort wahrnehme. Ich lese noch einmal Ad Herennium, von dem ich sicher bin, dass Thomas ihn kannte, und frage nach Anklängen im Text der Vier Regeln. Dann schaue ich auf die Umgebung des Thomas, soweit sie mir zugänglich ist, seine Schüler und die Schüler der Schüler seiner Schüler und frage mich, ob mir nicht vielleicht Verbindungen auffallen. Dann schaue ich auf meine eigene Auffassung von Lernen und Mnemotechnik und frage mich, wie ich mich dabei fühle.
Ja, und dann lege ich Thomas beiseite und lese ihn nach einiger Zeit noch einmal ganz von vorn. Ich frage mich, was ich von der Reihenfolge halte. Ist sie zwingend? Oder könnte man sie auch ändern? Ich frage mich auch nach der Idee, die die einzelne Regel zusammenhängt, ob ich sie klar und deutlich erfasse, oder ob da ein Rest bleibt. Auch innerhalb der einzelnen Regel gibt es noch so etwas wie eine Reihenfolge, eine Entwicklung. Ich überlege, ob ich mit ihr voll und ganz einverstanden bin, oder ob da ein Zweifel möglich ist. Für diesen Teil benötige ich mehrere Tage, ich gehe spazieren und versuche dabei, mir die Absicht Thomas klarzumachen, warum hat er diese Vier Regeln überhaupt geschrieben und für wen?
Nach einiger Zeit, eigentlich kann ich den Text schon auswendig, beginne ich noch einmal von vorn. Ich möchte wissen, warum es überhaupt vier Regeln sind und nicht z.B. drei oder fünf.
Und wieder nach einiger Zeit setze ich mich hin, lese den Text durch und genieße seine Klugheit.
Ja, und dann fühle ich mich befähigt, einen Abschnitt über Lerntechnik zwischen Thomas von Aquin und René Descartes in mein Manuskript zu Esels Welt einzuarbeiten.

U.V.
www.likanas.de
Pat
Superbrain
Beiträge: 780
Registriert: Mo 04. Apr 2005, 14:36

Beitrag von Pat »

Wenn jede Stelle aus Ihrem Buch ein solches Destillat analysierender Muse ist, dann verdient es nicht weniger, als dass sich der Leser in ebengleicher Muse mit Zeile um Zeile beschäftigt und danach strebt, hinter den Sätzen den Reichtum der Quellen und den weitum erforschenden Blick zu erahnen, aus dem sie erwachsen sind.
Antworten