Klaus Horsten hat geschrieben:Die Leitunterscheidung in der Mnemotechnik ist "merkbar/nicht-merkbar". In der Wissenschaft ist es, folgt man dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann, "wahr/unwahr". Für die Mnemotechnik hat dieser Unterschied keine Bedeutung. Das bedeutet, auch wenn eine Vorlage falsch ist, kann sie für die Mnemotechnik brauchbar sein. Und das mag teilweise erklären, weshalb Menschen, die wissenschaftlich eingestellt sind, Schwierigkeiten mit der Mnemotechnik haben.
Soweit die Theorie! In
Esels Welt wird daher die Gleichgültigkeit der Mnemotechnik gegenüber der Unterscheidung wahr / falsch immer wieder hervorgehoben und geradezu gepflegt. Andererseits wird aber vor dem Missbrauch von Mnemotechnik gewarnt, der dort stattfindet, wo willkürliche Assoziation an die Stelle von Verständnis tritt. Die grundsätzliche Kritik an der Mnemotechnik, wie sie von Descartes, Kant und Hegel geäußert wurde und die als solche auf schwerwiegenden Denkfehlern beruht, hat sehr wohl Berechtigung, wenn es um diesen Missbrauch unserer Kunst geht (
Esels Welt, 56 ff.).
In der Praxis sollte sich also der Gegensatz zwischen Mnemotechnik und Verständnis in eine Partnerschaft verwandeln. In meinem Buch
Das Jahr im Kopf habe ich gezeigt, wie das geht.
„Kalender“: Gregorianischer Kalender / julianischer Kalender / jüdischer Kalender; Wochentage, Osterdaten, Pessachdaten, Monddaten, lauter Dinge, die sehr viel mit Verständnis zu tun haben! Sogar geht es darum, dieses Verständnis möglichst weit zu führen. Mehr als 80 % meiner Arbeit an dem Buch richteten sich auf die Vertiefung des Verständnisses, nämlich auf die Überführung der vorliegenden Mathematik in eine mental beherrschbare Mathematik. Am Ende habe ich daraus ein selbständiges Buch gemacht, ein Buch, das auf jede Mnemotechnik verzichtet (
How to compute key Calendar Dates – Christian and Jewish – by Mental Calculation).
Wo nun ist hier Platz für Mnemotechnik? An zwei Stellen. Erstens geht es darum, einen schnelleren Zugriff auf bereits Verstandenes herzustellen. Beispiel: Die sog. Grenzzahl, die als Differenz zum 21. März angibt, wo sich der jeweilige Ostervollmond befindet. Man kann die Grenzzahl eines beliebigen Jahres durchaus im Kopf berechnen, wozu es bereits mittelalterliche Überlegungen gibt und auf dem yahoo Forum für mental calculation ein längerer Gedankenaustausch mit Robert Fountain stattfand. Aber keine Kopfrechnung erreicht die Geschwindigkeit einer schlauen Mischung aus Mnemotechnik und Kopfrechnen! Zweitens geht es um die Zahlen, die man nicht im Kopf berechnen kann, weil ihre Begründung zu kompliziert ist. Beispiel: Diejenige Jahre, in denen die Abweichung der im Sinne der gregorianischen Reform korrigierten Grenzzahlen von den astronomischen Vollmondszahlen größer ist als 1.
Das Ergebnis ist ein maximales Verständnis der Kalenderdinge zusammen mit einer maximalen Handreichung für mentale Beherrschung.
Wenn ich dies nun auf das Erlernen der chinesischen Zeichen anwende, so suche ich also auch hier Kooperation zwischen Mnemotechnik und Verstehen.
Das Verstehen ist das Erste und es sollte maximal sein. Und schon steht man allein auf weiter Flur! Die Chinesen selbst nämlich erlernen „ihre“ Schriftzeichen weitgehend ohne Verständnis. Sie setzen auf Fleiß und Disziplin und lernen Strichfolgen; die Formen prägen sich dabei per Gewohnheit ein. Bittet man also irgendeinen Chinesen, die Form eines Schriftzeichens zu erklären, so bekommt man in aller Regel keine Antwort. Die „vereinfachten“ Zeichen zumal, die in der Volksrepublik in den 50-ger Jahren eingeführt wurden, nehmen dem Geist der Zeit entsprechend wenig Rücksicht auf historische Gegebenheiten, sie helfen also auch nicht zum besseren Verständnis. Man muss sie einfach als zusätzliche Bürde mitnehmen. Wenn man sich auf sie beschränkt, so ist jede Möglichkeit für Verständnis verbaut. In gewisser Weise war das ja wohl auch die Absicht der Schriftreformer, den Zugang der Chinesen zu ihrer vor-kommunistischen Vergangenheit zu erschweren.
Das Gebot ist aber, bei jedem Zeichen seine Entwicklung zu kennen und möglichst weit zu verstehen. Hat man dies erreicht, so ist das Erlernen schon recht einfach und es zeigt sich schnell, wo Mnemotechnik Platz hat und wo sie nur zu abwegigen Vorstellungen führen würde.