Der Sinn des Gedächtnissports

Mnemotechnik als Mentalsport. Hier dreht sich alles um Meisterschaften, mentale Höchstleistungen, neue sowie alte Rekorde im Bereich des Gedächtnissports.

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Ulrich Voigt
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Beitrag von Ulrich Voigt »

Boris hat geschrieben:man kann ja durchaus kritisieren, was man selber macht
Klar kann man das. Wär aber kein gutes Zeichen. Nein, ich stehe voll hinter dem, was ich tue. Aber das heißt weder, daß ich den Gedächtnissport in allen Formen, in denen er da ist, gutheißen muß, noch, daß ich etwa Ansichten von Gedächtnissportlern über Mnemotechnik teilen müßte.

Gedächtnissportler sind ja in aller Regel keine Mnemotechniker. Sie benutzen Mnemotechnik, feilen vielleicht noch ein bißchen an ihr herum und trainieren dann. So ähnlich ist es ja wohl bei allen Sportarten. Sogar meine ich, daß Gedächtnissportler in aller Regel von Mnemotechnik weder viel wissen, noch auch viel wissen wollen. Sie kennen und benötigen Mnemotechnik ja nur als Mittel für ihren Sport. Mit Günther Karsten z.B. trat ich 2001 in einen Briefwechsel, in der Meinung, wir könnten als Mnemotechniker kommunizieren. Aber nein, schrieb er, ich bin kein Mnemotechniker, ich bin Mentalathlet, Leistungssportler. Das war klar und deutlich. - Umgekehrt sind die wenigsten Mnemotechniker auch noch im Sport engagiert. Wenn sie es sind, dann sind sie als Mnemotechniker (ich darf mich jetzt einmal ausnehmen) ganz und gar auf eben diesen ihren Sport konzentriert und beschränkt.

Aha, würden manche Gedächtnissportler da vermutlich denken: Eine klare Arbeitsteilung. Aber nein, die Mnemotechnik ist viel weiter. Sport ist nur eine Nische.

Historisch verhält es sich so: Die Mnemotechnik ist alt, der Gedächtnissport existiert erst seit ein paar Jahren. In ESELS WELT (2001) habe ich in aller Unschuld versucht, das gegenwärtige Zeitalter der Mnemotechnik zu charakterisieren. Zitat (S.30):"Es gibt neuerdings die Sportler wie Jonathan HANCOCK, die sich auf eine bestimmte Effektivität spezialisieren und zusammen mit den Varietékünstlern für Publizität sorgen." - Ja, Harry Lorayne sah ich (und sehe ich noch) als Akrobat, nicht als Sportler. Immerhin hatte ich schon begriffen, daß Sport in der heutigen Szene viel bedeutet. Ich stand ihm aber ziemlich fremd gegenüber. Kein Wunder, daß ich von Dominic O`Brien noch gar nichts gehört hatte. Der Gedanke, gar selbst Gedächtnissport zu betreiben, war mir damals noch nicht einmal im Traum gekommen. Die Idee gar, daß nun Mnemotechnik vom Gedächtnissport getragen und repräsentiert werden könne, hätte mich verwirrt. Sie tut es noch.

U.V.
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Ulrich Voigt
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Beitrag von Ulrich Voigt »

Boris hat geschrieben:Und bei all Ihrer Vorliebe zu den historischen Anwendungen der Mnemotechniken [...]: Heute macht es in der Praxis keinen Sinn mehr, sich hunderte Reden oder Gesetzestexte einzuprägen, da es nicht nur den Buchdruck, sondern sogar Computer gibt, mit denen man das alles in Sekundenschnelle sichern kann
Mit Verlaub, lieber Boris, aber es ist offensichtlich, daß Du weder ESELS WELT, noch DAS JAHR IM KOPF je angeschaut hast. Du hättest diese Sätze sonst gewiß nie geschrieben.
Immerhin betreibe ich einen Verlag für innovative Mnemotechnik. Da wär es doch arg peinlich, wenn ich nichts anderes vorzubringen hätte als Marcus Tullius Cicero vor 2.000 Jahren. Zu dem Buchdruck- und Computerargument übrigens ausführlich ESELS WELT S. 54-55.

U.V.
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isegrim
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Beitrag von isegrim »

@ Ulrich Voigt
Um zu entscheiden, ob Gedächtnissport Mnemotechnik ist, müssten wir erstmal über eine Definition von Mnemotechnik verfügen, auf die man sich einigen kann. Wie definierst Du also Mnemotechnik?
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Flauwy
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Beitrag von Flauwy »

Wieso sollte man eine generelle Unterscheidung zwischen Gedächtnissport und Mnemotechnik ziehen? Ich habe angefangen mein Gedächtnis mit Mnemotechniken zu trainieren, bevor ich überhaupt nur über Gedächtnisturniere nachgedacht habe. Anfänglich war alles nur praktische Anwendung. Später wurde meine Leidenschafft für den Wettkampf geweckt, wo ich vorerst noch GENAU die gleichen Techniken verwendet habe. Dann fing ich langsam an meine Techniken zu variieren, zu verbessern und auch neue zu erdenken. Daraus entstand ein für mich persönlich beachtliches Wissen über die Fähigkeiten des Gehirns und wie ich dieses in meinen Techniken verarbeiten kann. Ich betreibe also nicht nur Mnemotechnik. Ich forsche mit Mnemotechnik. Und das tue ich garantiert nicht nur um meine sportliche Leistung zu steigern, sondern vorallem um spielerisch meine Allgemeinbildung stetig zu verbessern.
Und damit stehe ich nicht allein da, im Gegenteil. Wie ich aus vielen Diskussionen aus dem Brainboard, aber auch aus meiner Gedächtnisgruppe Gekko weiß, liegt der Hauptaugenmerk eines JEDEN (eines jeden den ich kenne, sicherlich gibt es auch einge die einfach nur Gedächtnis-Weltmeister werden wollen :wink: ) im ersten Ansatz darin, seine Gedächtnisleistung zu steigern und sich mehr merken zu können. Es ist also gar nicht der Sport, der in erster Linie mehr Menschen zu Mnemotechnik bringt, sondern nur der innige Wunsch der meißten sich viel und einfach merken zu können. Der Sport ist daraufhin, nachdem man sich mit der Materie vertraut gemacht hat, für einige eine spannende Herausforderung, die aber nicht impliziert, das man sich nur noch mit einmal ausgefeilten Techniken auf immer bessere Zeiten bringt und die Mnemotechnik dadurch vernachlässigt, wie hier behauptet:
Gedächtnissportler sind ja in aller Regel keine Mnemotechniker. Sie benutzen Mnemotechnik, feilen vielleicht noch ein bißchen an ihr herum und trainieren dann.
Mag vielleicht sein, das Dr. Karsten sich selbst "nur" als Mentalathlet bezeichnet und an Mnemotechniken im tieferen Sinn nicht weiter interessiert sein mag. Die meisten Menschen jedoch die ich kenne, die sich mit Mnemotechnik auseinandersetzen, wollen sich auch, wenn nicht sogar hauptsächlich viele Dinge auf langfristige Sicht merken können.
Umgekehrt sind die wenigsten Mnemotechniker auch noch im Sport engagiert. Wenn sie es sind, dann sind sie als Mnemotechniker (ich darf mich jetzt einmal ausnehmen) ganz und gar auf eben diesen ihren Sport konzentriert und beschränkt.
Tut mir leid, aber da muß ich heftigst widersprechen. Ich konzentriere, beschränke mich aber nicht (und damit spreche ich wohl auch für viele andere hier) auf den Sport. Im Gegenteil. Genau wie Boris bereits gesagt hat, bekommen ich durch mein Training genau die richtige Effizienz mein mnemotechnisches Wissen im Alltag schnell und korrekt umzusetzen.

@Boris
Heute macht es in der Praxis keinen Sinn mehr sich hunderte Reden oder Gesetzestexte einzuprägen, da es nicht nur den Buchdruck sondern sogar Computer gibt mit denen man das alles in Sekunden schnelle sichern kann - was halt zur Hochzeit der praktischen Mnemotechniken nicht gegeben war, weshalb dort der Nutzen größer war
Da muß ich dir leider widersprechen Boris, denn meiner Meinung nach ist es zwar nicht notwendig, aber doch extrem vorteilhaft viele Fakten, Gedichte, Zitate, Anekdoten etc. im Kopf und damit immer parat zu haben. Wenn dir in einer Unterhaltung zwei drei passende Zitate einfallen, wenn du im Gericht den korrekten Wortlaut des Gesetzes aus dem Stehgreif aufsagen kannst, oder wenn du einfach nur deiner Freundin ohne Vorbereitung ein Gedicht aufsagen kannst, welches gerade deine Gefühle am besten ausdrückt, dann wirst du sofort Punkten. Deine Wirkung auf andere Menschen wird verstärkt, was dir persönlich wie beruflich viele Türen öffnen kann und wird. 8)

Und meine Definition von Mnemotechnik: Die Verbesserung der Gedächtnisleistung durch Umwandlung von abstrakten Informationen zu synästhetischen Assoziationen (visuell, auditiv, kinästhetisch etc.)
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Ulrich Voigt
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Beitrag von Ulrich Voigt »

isegrim hat geschrieben:Wie definierst Du also Mnemotechnik?
Ich definiere Mnemotechnik als Technik der Eselsbrücken.

Technik ist das Erdenken und Herstellen von künstlichen Mitteln, um dort zum Erfolg zu kommen, wo herkömmliche Mittel versagen.

"Eselsbrücke" ist ein witziger Ausdruck, zu dem mir schnell allerlei Schabernack in den Sinn kommt, wie z.B. der Buchtitel ESELS WELT.

Etwas weniger witzig, aber von der Sache her gleich wäre der Ausdruck "mnemonische Struktur":
Eine mnemonische Struktur besteht aus zwei Inhalten A, B und einer Relation µ, die die beiden Inhalte verknüpft UND der Absicht oder Möglichkeit, sich von B ausgehend mittels eben dieser Relation µ an A zu erinnern.

A-µ-B ist die Eselsbrücke. Sie führt von B nach A.
A ist der Erinnerungsinhalt, B die Erinnerungsstütze.
µ ist eine definitorische Beziehung. Sie ist willkürlich gesetzt.

Mit dieser Definition versuche ich, den Kern aller Memotechnik zu fassen. ESELS WELT ist nichts anderes als eben eine Abhandlung über die mnemonische Struktur.



Jetzt läßt sich über Unterscheidungen reden:

Der Mnemotechniker ist derjenige, der zu einem vorgegebenen A ein passendes A-µ-B findet. Er ist der Konstrukteur einer Brücke.

Der Mnemotechnik-Praktiker ist derjenige, der eine solche Struktur tatsächlich benutzt, um sich etwas zu merken. Er ist der Fußgänger, der tatsächlich über solch eine Brücke geht.

Der Mnemotechnik-Akrobat ist derjenige, der solches benutzt, um etwas ganz und gar Erstaunliches einem Publikum vorzuführen. Er ist der Könner, der eine schwierige Brücke über einen tiefen tiefen Abgrund heil zu überqueren weiß. Im Grunde will der Akrobat aber gar nicht auf die andere Seite des Abgrunds, er will nur seine besondere Fähigkeit demonstrieren.

Der Mnemotechnik-Sportler ist derjenige, der solches benutzt, um unter Sportkampfbedingungen Leistung zu erzielen. Er ist der Trainierte, der bei einem Wettlauf als erster drüben ankommt oder sogar in Rekordzeit. Genau so wenig wie dem Akrobat geht es ihm darum, igendwo anzukommen, die Brücke ist nur so eine Art Aschenbahn.

Der Mnemotechnik-Jogger ist derjenige, der solches benutzt, um damit seine Gedächtnisleistung ganz allgemein zu verbessern. Er ist der Läufer, der sich in Bewegung hält, weil er glaubt, daß Bewegung gesund sei.

Das sind alles durchaus unterschiedliche Aktivitäten, die ich alle sehr schätze, und auch alle ein bißchen betreibe.



Nun aber zum Mnemotechnik-Sport. Ich habe ihn als Nische bezeichnet und gesagt, daß mich der Gedanke, daß die Mnemotechnik insgesamt von ihm aus repräsentiert wird, stört.

Es geht um den Erinnerungsinhalt A. Er ist im Gedächtnissport unwichtig. Tatsächlich ist er in aller Regel künstlich hergestellt, damit "Sport" möglich wird. Es geht ja gar nicht darum, "wirklich" etwas zu lernen, sondern darum, mit Lernkapazität Sport zu machen.

Wie anders aber die eigentliche Mnemotechnik: Sie geht aus von realen Inhalten A und führt zu ihnen zurück.

Ob es der Mnemotechnik je gelingt, als Kulturtechnik in den Schulen (wieder) Fuß zu fassen, wird davon abhängen, wie weit sie in der Lage ist, wichtige Themen A zu erfassen.

Wenn man aber versucht, vom Sport oder vom Jogging aus an die Schulen heranzugehen, so entzündet man bestenfalls ein Strohfeuer, von dem am Ende nichts Gutes übrig bleibt.

U.V.
Teleri
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Beitrag von Teleri »

Ich bin selbst Musiker und kann sagen, daß der Vergleich mit der Musik falsch ist. Denn beim von Ulrich Voigt zitierten Erzeugen der Tastenklänge kommt es ja nur auf das Ergebnis an: Entweder bekommt man Musik oder wirre Dissonanzen.

Beim Gedächtnissport wird aber etwas Unmeßbares bewertet, nämlich die Assoziationsleistung. Ob ich die dann in realen Jahreszahlen oder in fiktiven wiedergebe, ist unerheblich. Wir Gedächtnissportler schleusen ja nicht nur irgendwelchen Unsinn durch unsere Gehirnzellen. Vielmehr sind die Zahlen und Daten ja nur die meßbare Essenz von etwas Un-Meßbarem, nämlich der Summe der verwendeten Assoziationen.

Es ist ein bißchen wie mit modernen Kunst. Rein materialistisch gesehen ist ein "Monochrome Bleu" oder ein Schlitz in der Leinwand lächerlich und völlig sinnlos. Betrachtet man die Absicht, die dahintersteckt ("Blau als konzentrierte Aussage des Geistes" bzw. "durch den Schlitz hinter das Bild gelangen, eine Bewußtseinsebene näher an eine reine Vorstellung herantreten"), versteht man es plötzlich. In meinen Augen ist Gedächtnissport angewandte Kreativität auf hohem Niveau.

Und außerdem macht es Spaß.
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