Klaus Horsten hat geschrieben:Fǎnqiè 反切
Hier ein Beispiel für die Verwendung der Fanqie-Methode aus dem großen imperialen Wörterbuch des Kangxi, dem 康熙字典 (frühes 18. Jahrhundert):
攘 = rang (Pinyin).
Kangxi schreibt:
汝羊切 sowie
如陽切 und
音穰.
Die Lautung „rang“ für das Zeichen
攘 wird damit folgendermaßen erklärt:
Nach Anlaut und Endung zerteilt (
切) in
汝 und
羊 oder in
如 und
陽 ergibt sich für
攘 die Lautung (
音) von
穰.
Es ist nämlich
汝= ru und
羊= yang, sowie
如 = ru und
陽 = yang.
Und es ist
穰 = rang.
Die Lautung von
攘 ist damit mehrfach bestimmt, zweimal durch Fanqie und einmal durch den Vergleich mit
穰.
Es werden hier also zwei von einander unabhängige Methoden zur Bestimmung der Lautung simultan verwendet.
Das sind die beiden chinesischen Methoden, Laute zu beschreiben. Für Nicht-Chinesen sind sie schwerer Tobak, denn sie setzen eine gediegene Kenntnis der chinesischen Schriftzeichen bereits voraus. Aber auch für Chinesen sind diese Methoden nicht wirklich befriedigend, denn sie lassen die Laute abgesehen von ihrer Zerschneidung in Anlaut und Schlusslaut vollkommen ohne Analyse.
In einer Dissertation Berlin 2009 (Nam-See Kim,
Grammatologie der Schrift des Fremden. Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung westlicher Rezeption chinesischer Schrift) macht sich der koreanische Autor über die Fanqie-Methode lustig, denn er hält sie für eine skurrile Erfindung des italienischen Jesuiten Matteo Ricci (1552–1610), und seine Dissertation dient der Absicht, den europäischen Möchtegern-Experten ganz allgemein und im Detail nachzuweisen, dass sie sich in der für sie nun einmal abgrundtief fremden asiatischen Welt nicht auskennen und mit ihren voreiligen Verallgemeinerungen vor allem Unsinn verbreiteten und verbreiten. Ein hübsches Beispiel dafür, wie leicht man mit Kulturrassismus auf die Nase fallen kann!
Tatsächlich war Matteo Ricci zusammen mit seinem Freund Michele Ruggieri (1543–1607) ganz im Gegenteil der erste, der eine Lautschrift mit lateinischen Buchstaben für das Chinesische entwickelt hat, was aber, wie man am obigen Beispiel sehen kann, in China durchaus nicht als nachahmenswerte Sensation empfunden wurde. Erst das kommunistische China hat in der Mitte des 20. Jahrhunderts mit „Pinyin“ eine Lautschrift mittels lateinischer Buchstaben in China durchgesetzt.
Andererseits befasste sich Matteo Ricci durchaus mit der Fanqie-Methode (die zu seiner Zeit bereits anderthalb Jahrtausende auf dem Buckel hatte). Er sah hier eine weitere Möglichkeit, chinesische Schriftzeichen durch Bilder darzustellen.
Aber hören ihn dazu selbst: „Es gibt noch eine weitere Methode: man verbindet zwei Bilder zu einer Einheit, indem man die vordere Hälfte zum Anlaut, die hintere Hälfte zum Auslaut macht. Mit dieser Methode der Verbindung des Anlautes der ersten Silbe mit dem Schlußlaut der zweiten erkennt man die Bilder durch Teilung – als wenn es sich etwa um einen menschlichen Kopf und einen Tierleib, oder einen Insektenkopf und einen Vogelleib handelte, bzw. um einen Menschen im Verein mit Vögeln, Vierfüßlern und Insekten.
Hat man einmal eine Pflanze, ein Tier und dergleichen Form besitzende Dinge zerschnitten (
切), dann fügt man die jeweiligen Körper wieder zusammen: dem Bild des vorderen Abschnitts der ersten Hälfte entspricht der Anlaut, das Bild des hinteren Abschnitts der zweiten Hälfte ist der Auslaut. Nach dieser Methode werden die Schriftzeichen erstellt. Merkt man sich das Bild, dann erinnert man sich der Zerschneidung, erinnert man sich dieser, so erinnert man sich des Schriftzeichens. Je mehr dieses Prinzip am wesentlichen Kern orientiert ist, desto leichter fällt es, sich etwas zu merken.
Nimmt man einen „Menschen“ (
人 ren) als Kopf, ein „Schaf“ (
羊 yang) als Leib, so wird durch „Zerschneidung“ r/en – y/ang zu rang (
攘), „greifen“.“ Michael Lackner,
Das vergessene Gedächtnis. Die jesuitische mnemotechnische Anhandlung XIGUO JIFA. Übersetzung und Kommentar, Stuttgart 1986, 45 f.
Der Vergleich mit der oben aus dem Kangxi entnommenen Zerlegung von rang in
汝羊 sowie
如陽 ist instruktiv.
Erstens verzichtete Ricci darauf, noch ein Vergleichszeichen wie
穰 = rang heranzuziehen und blieb ganz einfach beim Fanqie, denn damit ist der zur Diskussion stehende Laut vollständig beschrieben.
Zweitens wählte Ricci für „vorn“ und „hinten“ Schriftzeichen mit anschaulicher Bedeutung. Dies spielte für die Chinesen keine Rolle, wie man an
汝 (= obwohl) und
如 (= als ob) ablesen kann.
Matteo Ricci substituierte also anschauliche Bedeutungen der Zeichen für ihre Form und setzte im übrigen die ganze Breite chinesischer Zeichenkenntnis genau so voraus wie es von der Fanqie-Methode nun einmal verlangt wird. Wenn er also schrieb, dass man sich hier
攘 = rang (greifen) „merken“ soll, so wendete er sich nicht an den Europäer, der dabei ist, chinesische Schriftzeichen zu lernen, sondern an den Chinesen, der sie schon kennt und nur noch eine Erinnerung an ihre Lautung benötigt, z.B. als Stichwort beim Memorieren eines Textes.
Meines Erachtens scheint aber durch, dass Matteo Ricci sich auf Fanqie nur einließ, weil diese Methode nun einmal dazugehörte, denn er schrieb für chinesische Leser. Ich glaube aber nicht, dass er davon viel gehalten hat, denn erstens ist dieser Abschnitt in seinem Text ganz isoliert und zweitens ist deutlich, dass er sich bei der Konstruktion keine große Mühe gegeben hat, denn es fehlt ja noch die Anbindung an die Bedeutung von
攘 = (greifen).
Ich erlaube mir daher, die riccianische Analyse zu verbessern: „Ein Schaf mit Menschenkopf greift sich dies und greift sich das, stielt dies und jenes, nimmt alles mögliche fort und entfernt es, manches schiebt es sich in den Ärmel, wie wir es aber vertreiben wollen oder gar greifen, entblößt es sich, um uns damit abzuweisen und uns selbst zu vertreiben und jedenfalls sehr zu verwirren.“
Das Bedeutungsfeld von
攘 ist nämlich laut Rüdenberg-Stange,
Chinesisch-Deutsches Wörterbuch: stehlen, entwenden, fortnehmen, entblößen, abweisen, abwenden, vertreiben und laut MDBG: to push up one's sleeves / to reject or resist / to seize / to perturb / to steal.
„Greifen“ ist sehr allgemein und unspezifisch, es gibt viele Schriftzeichen mit dieser Bedeutung. Das gesamte Bedeutungsfeld ist hier aber ein Individuum. Wenn man also das Bedeutungsfeld von
攘 auch nur in etwa kennt, so hat man eine gute Chance, sich an das menschköpfige Schaf zu erinnern und kann damit die Lautung rang rekonstruieren.
Riccis Eingebung, mit Bedeutungen zu jonglieren wie mit Schriftzeichen, war allerdings neu und den Chinesen fremd. Sie wurde auch keineswegs etwa aufgenommen, sondern blieb bis zur Wiederentdeckung seiner mnemotechnischen Abhandlung im 20. Jahrhundert vergessen: „Vergessenes Gedächtnis“ ist ein von Michael Lackner mit Bedacht gewählter Buchtitel.