Ulrich Voigt
Das Jahr im Kopf: Kalender und Mnemotechnik
mit Zeichnungen von Simon Waßermann
Hamburg 2003
ISBN 3-935498-01-2 / Pb / 358 Seiten / € 35
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„Mneme“ (griech.) bedeutet „Erinnerung“. Mnemotechnik ist die Technik, sich zu erinnern. Das Erinnern und das Sich-Erinnern-Wollen richten sich auf jeweils ganz bestimmte Inhalte, für die nun dort, wo unser natürliches Erinnerungsvermögen an Grenzen stößt oder versagt, phantasievolle Hilfskonstruktionen hergestellt werden. DAS JAHR IM KOPF ist die Applikation von Mnemotechnik auf einen breiten Komplex von Kalendertatsachen: auf die Relation Wochentag - Datum im Julianischen und Gregorianischen Kalender, auf das Osterdatum (mit den übrigen christlichen Festtagen), auf das Pessachdatum (mit dem jüdischen Jahresanfang), sowie auf das Datum des Frühlingsvollmondes (mit den über das Jahr verteilten Vollmonden und Mondphasen).
Jedes Kapitel erscheint zweimal, einmal unter der Überschrift „Tatsachen“, sodann unter der Überschrift „Mnemotechnik“. Es ist also genau so, wie die bösen Kritiker der Mnemotechnik immer meinen: Mnemotechnik verdoppelt alles. Es ist aber nicht so, wie sie immer denken, denn durch die Verdoppelung entsteht keineswegs störender Müll im Kopf, sondern sauberes Öl im Getriebe.
DAS JAHR IM KOPF stellt seinen Leser damit vor ein Nebeneinander und Ineinander von sachlicher Erörterung und skurriler Phantasie, von Scherz und Ernst. Ein altes Problem fürwahr, zu dem gleich anfangs Giordano Bruno aus dem Jahre 1584 zitiert wird: „Wenn ihr nun auf ernste oder auch auf scherzhafte Dinge stoßt, so bedenket, daß sie es alle gleichermaßen verdienen, durch nicht gewöhnliche Brillengläser wiederholt und mit Sorgfalt betrachtet zu werden.“ - Ein altes Problem, ja, aber kein vertrautes, womit sich also eine Schwierigkeit vor dem Leser auftut, die Schwierigkeit nämlich, sich auf etwas Neues einzulassen, das sich nicht leicht an die alten Gewohnheiten anfügt. Das Buch ist mit dem Bewußtsein dieser Schwierigkeit geschrieben, zwar kompromißlos in der Sache, aber leicht und heiter in der Darstellung: suaviter in modo …
Zu den Tatsachen:
Die Kalender werden nicht als fertige Formeln und Tabellen vorausgesetzt, sondern neu entwickelt. Die Frage nämlich, wie es möglich sei, Kalenderdaten im Kopf zu bestimmen, erzwingt durchgehend eine eigene Betrachtungsweise der Kalender selbst. Und nicht nur das, sie führt auch zu neuen Einsichten in die Struktur des Objekts.
Kalender sind mathematische Objekte. Daran führt kein Weg vorbei. Aber, bitte, keine Angst! Der Leser wird ganz behutsam bei der Hand genommen und Schritt für Schritt geführt. Vorausgesetzt wird nur, daß er einfache Zahlen multiplizieren und dividieren kann und weiß, wie man dabei einen „Rest“ bestimmt.
Nun ist Kalendermathematik zwar einfach, aber nicht so gut entwickelt, wie man vielleicht annehmen möchte. Gleich im ersten Kapitel („Wochentage“) präsentiert DAS JAHR IM KOPF eine Formel, die man nicht kennen wird, eine Formel für die Bestimmung des Kalenders eines beliebigen Monats. Bereits hier wird der Leser wie selbstverständlich einbezogen in die Entwicklung eines mathematischen Konzepts, vielleicht für manchen auch das eine neue Erfahrung! Im zweiten Kapitel („Ostern“) ergibt sich aus eben dieser Neuerung wie von selbst eine sehr effektive Formel, das Osterdatum zu berechnen, nein, schnell zu berechnen, schneller als mit allen bisher bekannten Rechenmethoden. Im dritten Kapitel („Pessach“) gar ist alles neu, denn es hat doch noch nie jemand versucht, eine Näherungsrechnung zum Pessachdatum aufzubauen. Neuland! Die Strategie besteht darin, ausgehend von der christlichen Osterrechnung (oder vielmehr von der in dieser Rechnung enthaltenen Mondberechnung), das Pessachdatum „bis auf Ausnahmen“ berechenbar zu machen, um sich sodann diese Ausnahmen per Mnemotechnik zu merken. Hört sich das schwierig an? Aber aus unserer super-schnellen Osterformel purzelt die Lösung heraus und ist verblüffend einfach. Plötzlich erscheint die Kluft zwischen jüdischem und christlichem Kalenderdenken weniger abgrundtief. Im vierten und letzten Kapitel („Mond“) geht es um möglichst gleichmäßige Genauigkeit bei der Berechnung der übers Jahr verteilten Vollmonde. Auch hier findet man ohne große Mühe einen erstaunlich wirksamen Kniff.
Kalender sind dann historische Objekte. Auch hieran führt kein Weg vorbei. Im Osterkapitel geht es um die Grundlagen der christlichen Gegebenheiten. Nun, eine dieser Grundlagen ist fraglos die christliche Jahreszählung „ab incarnatione domini nostri Iesu Christi“, von der man annimmt, daß sie von dem skytischen Mönch Dionysius Exiguus im 6. Jahrhundert erfunden und in den kirchlichen Gebrauch eingeführt wurde. Im erzbischöflichen Museum zu Ravenna gibt es eine in jenes Jahrhundert datierte und Dionysius zugeschriebene berühmte Marmorplatte, die zeigen könnte, wie Osterrechnung und Jahreszahlen zusammengehören. DAS JAHR IM KOPF entwickelt aus diesem Stein eine Theorie über den gedanklichen Ursprung der Jahreszahlen in der Osterrechnung, eine Theorie, die überraschenderweise dazu befähigt, „unsere“ Jahreszahlen ohne den Bezug zu irgendeinem menschlichen Ereignis zu definieren. Daß dabei ein neuer Einblick in die Funktionsweise besagten Kalendersteines mit abfällt und auch ein ganz neues Licht auf die alte und nur scheinbar so einfache Millenniumsfrage geworfen wird, sei am Rande vermerkt.
Auch die Kalenderrechnung selbst ist ein historisches Objekt. Die vorgelegten Methoden der Osterrechnung werden in Bezug gesetzt zu den mittelalterlichen Rechenverfahren der Goldenen Zahlen, Epakten, Sonntagsbuchstaben und Konkurrenten. Die mittelalterlichen Rechenrezepte werden zu diesem Zweck in regelrechte Formeln verwandelt. Merkwürdig, wie dabei die Zahl „Nullus“ hervortritt!
Zur Mnemotechnik:
Es handelt sich um eine breit angelegte und liebevoll ausformulierte Technik, die lebendige Szenen aufbaut und Geschichten entwickelt. Seit dem 17. Jahrhundert hat es kein Mnemotechniker mehr gewagt, eine so weit ausgesponnene Phantasie zu veröffentlichen.
Zunächst einmal wird erkundet, wie weit man durch bloßes Kopfrechnen kommt. Es hat ja keinen Sinn, alles auswendig lernen zu wollen, nein, dort wo man leicht und effektiv rechnen kann, soll man das auch tun. DAS JAHR IM KOPF bietet eine vollständige und nach Kräften optimierte Anleitung, Kalenderdaten im Kopf zu errechnen. Es zeigt aber auch die Grenzen des Berechenbaren auf und strebt insgesamt nach einer möglichst effektiven Kooperation zwischen „Rechnen“ und „Auswendigwissen“. Die Grenzen des Berechenbaren werden dann natürlich überschritten, und zwar deutlich und mit Leichtigkeit, so daß am Ende eine freie Mnemotechnik in Erscheinung tritt und die Reise abschließt.
Die Mnemotechnik, die hier zur Anwendung kommt, beruht auf der Codierung von Wör-tern nach dem sogenannten „major system“. Sie arbeitet sodann mit vorbereiteten Wort-listen aus je 100 Wörtern („100-Garderoben“). Soweit ist sie vollkommen traditionell. Dann aber geht sie daran, aus diesen Wörtern Geschichten zu konstruieren. Es mag den Laien wundern, aber sofort wird die Sache innovativ, denn diese Art von Geschichten wird man in der mnemotechnischen Literatur vergeblich suchen. Vielleicht existiert sie in zarten Ansätzen in gewissen Arbeiten des 17. Jahrhunderts, das mag sein, hier aber ist sie ausgereift und abgerundet und hat keine Mühe, zwei 100-Garderoben simultan zu verarbeiten: Höhere Mnemotechnik ist polyphon. Auf neue und wundersame Weise wird der Leser damit angeregt zu einem kreativen Spiel seiner Phantasie, seines Verstandes und seiner Aufmerksamkeit; ein Schritt geschieht, der ihm vorkommen wird „wie eine Luftveränderung; er läuft jetzt nicht mehr durch eine Stube, sondern steht in einem wilden Garten. Um ihn herum bewegt es sich bedrohlich, und unversehens wird er selbst in das Geschehen hineingezogen.“
Zum Jahr im Kopf:
Welcher Wochentag war eigentlich der 16. April 1521? Auf welches Datum fiel der erste Sonntag im August 1877? An welchem Tag im Jahre 1968 war der Frühlingsvollmond? Auf welches Datum fiel der 15. Nisan („Pessach“) des Jahres 1090? Oder der 1. Tischri („Rosch Haschanna“) 1345? Oder der Ostersonntag 1790? Fallen die Osterfeiern gemäß Julianischem und Gregorianischem Kalender im Jahre 1633 zusammen? Wie stand der Mond am 1. Oktober 976? Wann wird im August 2041 Vollmond sein?
Solche Fragen beantworten zu können, wird am Ende zu einer vergnüglichen Angelegenheit, und für den historisch Interessierten geht es sogar um Nützliches. Leser dieses Buches dürften wohl kaum noch in solche Fallen tappen wie weiland der berühmte Historiker Theodor Mommsen, der nämlich, was DAS JAHR IM KOPF ihm genüßlich nachweist, zu seinem eigenen Schaden über Wochentagsangaben ohne Verständnis hinwegging.
Noch ein kleiner Hinweis für den Zaghaften: Wenn man den ehrgeizigen Zeitrahmen des Buches nicht mitmachen möchte, vereinfachen sich sämtliche Fragen gewaltig. Ein Kinderspiel, die obigen Fragen nur ab, sagen wir, dem 19. Jahrhundert beantworten zu wollen! Das Buch ist so geschrieben, daß beliebige Reduzierungen dieser Art leicht sind. Der Autor ist aber nicht der Ansicht, daß durch solche rein praktischen oder vielmehr kleinmütigen Erwägungen dem Geist der Mnemotechnik entsprochen würden.
Zum Autor:
Dr. Ulrich Voigt
Oberstudienrat für Mathematik und Geschichte am Matthias-Claudius-Gymnasium in Hamburg-Wandsbek
David Hume und das Problem der Geschichte (Duncker und Humblot, Berlin 1975)
Esels Welt. Mnemotechnik zwischen Simonides und Harry Lorayne (= Beiträge zur Mnemotechnik Bd.1 im Likanas Verlag, Hamburg 2001)
Das Jahr im Kopf. Kalender und Mnemotechnik (= Beiträge zur Mnemotechnik Bd.2 im Likanas Verlag, Hamburg 2003)
Gedächtnissport : ein nationaler Rekord (2003) und ein Weltrekord (2002)
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